Zeugen der Stadtgeschichte: Das Hirschberghaus
Über Jahrhunderte war hier die Stadt zu Ende. Das Nikolaikirchlein mit dem Friedhof, jenseits der Triebisch ohnehin vom städtischen Geschehen abgeschnitten und nur umständlich erreichbar, war die letzte Bebauung der Stadt. Dahinter, stadtauswärts, folgten unterhalb der Plossenhänge wohl Felder oder Wiesen, die immer wieder der Überschwemmung durch die Triebisch ausgesetzt waren. Den abgeschiedenen Goldgrund überließ man unberechenbaren Gewerken, wie einem Artillerielaboratorium oder der 1844 gegründeten Zünderfabrik Bickford & Co. Erst die 1864 an der Talstraße eingerichtete Porzellan-Manufaktur deutete an, dass die Stadt Meißen im Triebischtal eine neue Zukunft sah.
Es war Bürgermeister Karl Richard Hirschberg, seit 1859 im Amt, der sich weitblickend für eine Erschließung dieses Talkessels als Industriestandort und Arbeiterwohngebiet einsetzte. Meißen sollte so den Anschluss an das technische Zeitalter sowie Arbeitsplätze gesichert werden, aber es galt auch, Meißens historische Elbansicht vor Industrieansiedlungen zu bewahren. Der Bau der Eisenbahnlinie nach Leipzig 1868, die gleichzeitige Triebischregulierung und die Anlage der Talstraße bis zum Jacobiwerk ab 1871 beendeten die Abgeschiedenheit des Triebischtals. Hirschberg selbst setzte ein Zeichen, indem er sich entschloss, hier seinen Wohnsitz zu nehmen.
Grundstück preisgünstig erworben
Auf dem dafür hinter der Friedhofsmauer erworbenen Flurstück 617a, einem Gartengrundstück an der Eisenbahn, das er im November 1874 für „2445 ¾ Mark“ preisgünstig erwarb, ließ er sich von Baumeister Dürichen nach eigenen Entwürfen sein Wohnhaus erbauen. Gemäß seiner Lebensart begnügte sich der Bauherr mit einer schlichten Architektur. Lediglich die Erdgeschossfenster heben sich durch Umrandung und Verdachung hervor, während die funktionale Gliederung der zweigeschossigen Villa Eintönigkeit vermeidet. Auch die Innenausstattung dürfte auf Zweckmäßigkeit bedacht gewesen sein. Davon zeugt heute noch im Erdgeschoss ein Fliesenbelag der Firma „Villeroy & Boch“, die um diese Zeit auch an der Restaurierung der Albrechtsburg beteiligt war.
Während das untere Geschoss für Bewirtschaftung, Amtsarbeit und Repräsentation eingerichtete war, diente das Obergeschoss als Wohnbereich der Familie. Zu der gehörten zur Zeit des Einzugs 1875 fünf Kinder im Alter von zwei bis 14 Jahren. Außerdem blieben noch Räumlichkeiten der Vermietung vorbehalten, so an die Bürgerschul-Lehrerin Johanne Amalie Scholle. „Auf das Behaglichste eingerichtet“, sei das Bürgermeister- oder Hirschberghaus am „Eisenbahnweg 478 C“.
In den Mitteilungen des Meißner Geschichtsvereins heißt es 1891:
„Nicht bloß die Stätte des reinsten Familienglücks und seiner liebsten Erholungen, in der freien Natur oder bei seinen Lieblingsstudien geworden, sondern auch ein Magnet für Verwandte, Freunde und Bekannte, die hier stets eines herzlichen Willkommens und genussreicher Stunden gewiss sein konnten.“
Rastlos blieb Bürgermeister Hirschberg auch nach seinem Einzug um Aufwertung und Neugestaltung des Umfeldes bemüht. Ab 1878 ließ er den Ausbau des Eisenbahnweges vornehmen, er widmete sich der Anlage des Stadtparks, beförderte die Verlegung des Nikolaifriedhofs 1879 nach Lercha und brachte 1884 das Waldschlösschen in städtischen Besitz. Als er am 31. März 1886 in seinem Haus am Arbeitstisch 65-jährig plötzlich aus dem Leben gerissen wurde, hatte er die wichtigsten Impulse bereits gesetzt. Seine Ehefrau mit den noch unmündigen drei Kindern hinterließ er eine schöne Wohnlage, die allerdings vom Zugverkehr beeinträchtigt blieb. Der Witwe stand jetzt als neuer Mieter und Hausmann der Fabrikarbeiter Hermann Moritz Borsdorf zur Seite, bis sie sich zum Verkauf des Grundstückes und zum Wohnungswechsel entschloss.
Firmensitz und Winterwohnung von Buchhändlern
Im April 1895 ging das Hirschberghaus für 28.000 Mark an den Verlagsbuchhändler Woldemar Schlimpert als neuen Besitzer über. Die Familie Schlimpert war zu dieser Zeit in Meißen und Cölln durch den Bildungs- und Geschäftssinn von Alfred und Woldemar Schlimpert, beide Freimaurer, bekannt geworden. Erst 1891 und 1895 hatten Forschungsberichte des in der Hafenstraße wohnhaften Drogisten und Apothekers Alfred Schlimpert (1837 – 1900) zur „Flora von Meißen“ in der „Deutschen botanischen Monatsschrift“ Aufsehen erregt. Vor allem aber war Woldemar Schlimpert, geboren 1843, durch seine 1869 begründete „Sächsische Schulbuchhandlung“ in der Gerbergasse bekannt. 1889 überließ er sie Paul Haefer beziehungsweise Albert Buchheim, um sich in der Wilsdruffer Straße 22 (jetzt 40) pädagogischen Verlagsvorhaben widmen zu können. Mit dem Hirschberghaus wurde es ihm möglich, hier sowohl die Firmenräume als auch seine Winterwohnung einzurichten. Die Sommerwohnung blieb in der Wilsdruffer Straße, bis er sich um 1920 dort gänzlich niederließ und das Obergeschoss des Hirschberghauses Mitarbeitern vermietete.
1921 ging die Leitung der Firma bei gleichzeitiger Umwandlung in eine GmbH an den langjährigen Mitgesellschafter Hermann Püschel über, der nach dem Tod Schlimperts im November 1924 im Oktober 1929 auch die Villa zu erwerben vermochte.
Von nun an waren Firma und Firmeninhaber wieder im Hirschberghaus vereint, das 1930 durch eine Veranda und Garage den neuen Bedürfnissen angepasst wurde. Püschels Begeisterung für den Nationalsozialismus beschwor jedoch schon bald eine Tragödie für das Unternehmen und die Unternehmerfamilie selbst herauf. Durch seine SS-Mitgliedschaft besonders ausgerichtet, fanden auch die Söhne Heinz, geboren 1922. und Horst, geboren 1926, zur Waffen-SS. Der ältere Sohn erlag 1943 als Untersturmführer der Leibstandarte „Adolf Hitler“ einer schweren Verwundung. Der jüngere blieb seit dem Kriegsende in der Tschechoslowakei verschollen. Bei der Annäherung der Sowjetarmee an Meißen beging Hermann Püschel im Hirschberghaus am 25. April 1945 Selbstmord.
Beschlagnahmung und "Klub der Intelligenz"
Folgerichtig wurde das Grundstück im August 1945 beschlagnahmt und im September 1949 in das „Eigentum des Volkes“ überführt. Das vermochte auch ein im Mai 1947 im Grundbuch eingetragener Besitzvermerk der Erbengemeinschaft Helene Hedwig und Horst Püschel – hinterbliebene Witwe und vermisster Sohn – nicht zu behindern. Das Haus wurde zur Lösung von Wohnraumproblemen genutzt. 1950 bot die Villa drei Familien ein Unterkommen: Anna Bartel, Teppichhändler Albert Biskup und Parteisekretär Arthur Schönwitz.
Obwohl sich die Verhältnisse völlig geändert hatten, erfüllte sich das Hirschberghaus dennoch mit Leben, das seiner bisherigen Funktion als ein geistig-kultureller Treffpunkt entsprach. Im März 1950 wurde es dem Kulturbund überlassen wurde, der hier im Erdgeschoss das Kreissekretariat einrichtete. So sehr mit dem Kulturbund eine ideologische Ausrichtung und Kontrolle der Kulturarbeit bezweckt war, so bot er doch Freiräume abseits der Parteipropaganda in Arbeitsgemeinschaften, im „Klub der Intelligenz“ sowie durch Kulturveranstaltungen.
Die Pianistin Pia-Monika Nittke, spätere Gattin des Kunstmalers Jähnig, erinnert sich eines Auftritts im September 1951:
„Ein freundliches Ambiente erwartet die Besucher ..., helle lichte Räume, Wände und Möbel vorwiegend in Weiß gehalten, sogar der Flügel ist weiß lackiert. Vor geladenen Gästen, zu denen Ärzte, Schauspieler und Intendant Kirchhoff zählten, spielte ich mein Klavierkonzert und erntete viel Beifall. Kunstmaler Franz Nolde, mit schwarzem Bart wie ‚Barbe bleu‘, überreichte mir im Auftrag des Meißner Kulturbundes zur Uraufführung meiner dramatisch angelegten Klavierkomposition ein attraktives Nelkenbukett.“
Außer namhaften Meißnern, wie Rudolf Bergander, Hanne Gallert, Max Großmann, Rolf Mäser, Hans-Joachim Mrusek, Erich Oehme oder Otto Walcha, waren hier auch bedeutende Vertreter des DDR-Kulturlebens zu Gast, so 1957 der Musikwissenschaftler Karl Laux oder 1962 der Dokumentarfilmregisseur Joop Huisken. Daneben fand hier auch das Pädagogische Kreiskabinett für einige Jahre sein Domizil.
Sitz einer Sozialstation
Im Oktober 1990 wurde die hauptamtlich geleitete Geschäftsstelle aufgelöst. Jetzt offenbarte sich allerdings eine bauliche Vernachlässigung, die mit dem völligen Leerstand nach dem Auszug der Mieterin Schönwitz aus der oberen Etage noch rasch zunahm. Nachdem die Musikschule eine Übernahme abgelehnt hatte und im April 1994 die Ausschreibung für 190.000 Deutsche Mark erfolgt war, erwarb die 1990 gegründete Christliche Sozialstation Meißen das Gebäude im Mai 1996. Der enorme Sanierungsaufwand machte allerdings erst im April 1999 die Verlegung und im Juni 1999 die Eröffnung einer Tagespflege möglich. Das verheerende Hochwasser vom August 2002 zwang dann erneut zur Verlegung und Instandsetzung. Seit April 2003 ist das Hirschberghaus wieder eine Stätte sozialen Waltens. Man richtet sich bereits auf die Erweiterung um eine ambulante Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz ein. Damit erfüllen sich die sozialen Anliegen seines Erbauers und ersten Bewohners in sinnvoller Weise. An ihn erinnert seit April 2007 eine Gedenktafel am Hirschberghaus.
Gerhard Steinecke
Der Artikel erschien am 21.06.2007 in der Druckausgabe des Meißner Tageblatts.
Titelbild: Das Meißner Hirschberghaus ist heute Sitz einer Sozialstation. Foto: S. Max