27. April 2024 13:41

Neue Sachlichkeit statt vieler Schnörkel

Meissner Bahnhof um 1928

Zeugen der Stadtgeschichte: Der Meißner Bahnhof

Ab Juli 1998 zeigten auf dem Meißner Bahnhof drei Monate lang rote und grüne sich aufrichtende Stoffsäulen die Einfahrt der Züge an. Mit dieser Aktion sollte auf den denkmalgeschützten „Kulturbahnhof Meißen“ aufmerksam gemacht werden. Viele fragten sich damals, was denn den Denkmalwert des vernachlässigten Bahnhofbaues ausmache.

Verschiedene Antworten waren im Umlauf. Wer scherzte, brachte ins Spiel, dass die Erneuerung der Bahnhofsanlagen, die mit dem Bahnhofsbau abschloss, als die 1.000-Jahr-Feier Meißens anstand, von 1912 bis 1929 währte und so ins Buch der Langzeit- Baurekorde gehöre. Doch gibt es dafür sicher auf der Welt noch andere Rekordanwärter. Für das Denkmal „Meißner Bahnhof“ müssen doch andere Gründe maßgebend sein.

Das meinten auch die, welche das Besondere am Meißner Bahnhof in seinem Standort sehen. Er befindet sich nicht auf Meißner Flur. Der Vorgängerbau wurde 1860 im damaligen Dorfe Cölln angelegt. Das ergab sich einerseits zwangsläufig aus der fehlenden Baufreiheit in der Stadt. Andererseits sollte die Station Meißen und den wichtigen Straßen nahe sein. Allerdings brachte das Streit um die Bezeichnung als „Station Meißen“. Viele Jahre wurde der Bahnhof „Meißen-Cölln“ genannt, bis endlich die Vereinigung Cöllns mit Meißen ab dem 1. Mai 1901 die Bahnhofsbezeichnung „Meißen“ gestattete. Den Bahnhofsneubau von 1926/28 berührte dieser Widerstreit nicht mehr.

Bleibt die Frage nach der Berühmtheit des Architekten. Auf ihn kann man sich durchaus berufen, denn der 1873 in Eltville bei Bingen geborene Wilhelm Kreis hatte sich durch zahlreiche Bauten als Bauhaus-Architekt, also Vertreter der modernen Stilrichtung, Lehrer der Kunstgewerbeschule Dresden (1902/08) und Direktor der Kunstgewerbeschule Düsseldorf (1908/26) einen Namen gemacht. Kreis bekam schon als Student 1896 den 1. Preis im Wettbewerb für ein Leipziger Völkerschlachtdenkmal. 1904 – 1908 entstand nach seinen Plänen die Dresdner Augustusbrücke, die sich durch ihre Anlehnung an römische Vorbilder und Pöppelmanns Brückenbaukunst sehr gefällig in das Stadtbild fügt.

Ein neuer Baustil

Nachdem 1908 bis 1926 zunächst noch in Köln und Karlsruhe Warenhäuser mit römisch-barocken Fassaden (um 1912) sowie das ebenfalls an römisch-germanische Bauwerke orientierte Vorgeschichtliche Museum in Halle (1913-1914) entstanden waren, profilierte er sich zum Architekten der Neuen Sachlichkeit.

Davon zeugen in Düsseldorf das Wilhelm-Marx-Haus (1921-24) als eines der ersten Hochhäuser Deutschlands sowie das Museums- und Ausstellungsgebäude (1926). Die Arbeit in Meißen fällt bereits in die Zeit seiner Tätigkeit als Professor und Leiter des Lehrstuhls für Baukunst an der Dresdner Kunstakademie. Die trat er 1926 an. In diesen Jahren plante er auch den Bau des Hygienemuseums Dresden, das zwischen 1927 und 1930 entstand. Mit Meißen war Kreis noch auf andere Art verbunden: durch Beteiligung an den Konzepten zum Neubau der Meißner Elbbrücke oder als Mitglied des Katholischen Kunstkreises im Bistum Meißen.

Bismarcktürme und Schattenseiten

Doch diesem Ruhm allein, so ist einzuwenden, kann der Meißner Bahnhof seine Denkmalwürdigkeit noch nicht verdanken. Schließlich hat Kreis auch einige Schattenseiten. Ganz abgesehen von den rund 40 Bismarcktürmen, die er bis 1914 entwarf und die konservative Einfalt bekunden, stellte er sich nach anfänglicher Zurückhaltung doch in den Dienst der Nationalsozialisten. So stand er seit 1936 dem Generalbauinspektor Speer bei der Neugestaltung Berlins zur Verfügung. 1937 entwarf er den Baukomplex für das Luftgaukommando in Dresden-Strehlen. 1938 ehrte ihn Hitler mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. Wilhelm Kreis wurde 1943 zum Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste berufen.

Besonderes Engagement zeigte er jedoch als Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe, wozu ihn Hitler am 16. März 1941 ernannte. Die von ihm geplanten gigantischen Denkmäler sollten an der Saar, an der Kanalküste, bei Oslo, auf den griechischen Thermopylen, in Afrika, im polnischen Kutno und vor allem in der Sowjetunion (wo am Dnepr ein Monument von 130 Meter Höhe vorgesehen war) von der Macht des nationalsozialistischen Deutschlands künden. Ebenso bemühte sich Kreis um die ihm übertragene Gestaltung von Ehrenhöfen und sonstigen Ehrenmalen der NSDAP, wie ein von ihm für Dresden geplanter Ehrentempel beziehungsweise Gauforum dokumentiert. Für seine Ergebenheit erhielt Kreis 1943 aus der Hand des Reichspropagandaministers Goebbels das „Adlerschild“ des Deutschen Reiches. Nur der Zusammenbruch Nazi-Deutschlands verhinderte die Verwirklichung seiner Pläne.

Dessen ungeachtet fand der Architekt nach dem Krieg noch einmal Aufträge und Anerkennung mit dem Großen Verdienstkreuz in der Bundesrepublik. 1955 starb er 83-jährig in Bad Honnef. Der Name eines Architekten kann allein für einen Denkmalwert nicht ausreichen.

Kein verschachtelter Bau

Entscheidend ist wohl, was der Architekt am Bauwerk wie gelöst und gestaltet hat. Schon bei der Einweihung am 15. Dezember 1928 war man sich einig, dass der nach dem Vorbild des Stuttgarter Bahnhofs erbaute Meißner Komplex einer der architektonisch fortschrittlichsten, weil modernsten Verkehrsbauten Deutschlands sei. Sein „Funktionalismus“ vereine Sachlichkeit und Zweckform. Diese Übereinstimmung von baulicher Gestaltung und Funktionalität zeichnet ihn trotz aller Alterung bis heute aus.   

Interessant ist zunächst die Bauform. Besonders repräsentativ hervorgehoben ist die Empfangshalle als höchster Bauteil mit lichtdurchfluteten Glasfronten, abgestuft in Eingangs- und Schalterhalle. Dabei lockert die „asymmetrische“ Einordnung in den Bau die Form des Bahnhofs nicht nur auf. Sie demonstriert auch den Bezug zur Altstadtseite. Der Bahnhof wird von der Altstadtbrücke aus besser sichtbar.

Der niedrige Erdgeschossvorbau links (mit der „Sommerlaube“ des Wartesaals 2. Klasse) und rechts (mit den Schalterhallen) des Eingangsbereichs macht seine  frühere Funktion als „Dienstleistungsebene“ für die Reisenden deutlich. Dahinter zu den Gleisanlagen zeigt sich mit schlichter Fassade der Verwaltungsbereich. Längliche und runde Fenster markieren den gastronomischen und den Übernachtungsbereich. Ganz am Ende des Baus ist deutlich davon abgehoben der Küchentrakt.

Das Gebäude wirkt aber weder verschachtelt noch aufgeteilt, sondern als ein bauliches Ganzes. Das bewirken die architektonische Sachlichkeit und Akzentuierungen, die noch durch Farbflächen von rötlichem Rochlitzer Porphyrtuff bewirkt werden.  

Örtliches Bauhandwerk und Kunst

Der Wert des Bahnhofs als Denkmal wird aber auch durch den Anteil bestimmt, den Meißner Unternehmen an seinem Bau hatten. Von der Baufirma Otto & Schlosser kamen Eisenbeton-, Maurer- und Zimmererarbeiten, die benachbarte Ofen- und Wandplattenfabrik Saxonia lieferte das Material für die Wandverkleidung der Empfangshalle. Neben dieser handwerklich-industriellen Gestaltung ist es jedoch vor allem die künstlerische Ausstattung, die dem Bahnhofsbau eine besondere Ausstrahlung verlieh und noch verleiht.

Maßgebend dafür sind die Plastiken des Meißner Bildhauers Georg Türke (1884 – 1972). Am Wandbrunnen in der Eingangshalle begrüßt ein Putto-Junge mit einer Schale Wasser und Weintrauben die Reisenden, bis er leider in der DDR-Zeit entfernt wurde.

Meißen Bahnhofsrestaurant
Meißen, Bahnhof Wartesaal II. Klasse – Bahnwirtschaft, 1928, Foto: SLUB / Deutsche Fotothek / Brück und Sohn

Eines der letzten Bahnhofsrestaurants

Freundliche Atmosphäre ist heute noch in der Bahnhofsgaststätte Saxonia, dem früheren Wartesaal 2. Klasse, zu erleben, den die Meißner Kunsttischlerfirma Otto Birkner ausgestaltete und den noch fünf Holzplastiken Türkes schmücken: ein Putto-Bäckerjunge mit Fummel, ein Putto mit Hut, ein Mandolinenspieler und zwei liegende Frauen.

Dazu gehörte bis 1991 ein prächtiger Jugendstil-Kronleuchter aus Meissner Porzellan, der offenbar unter der Formennummer „W 199“ der Porzellan-Manufaktur Meißen im November 1906 für Kreis geschaffen wurde. Der Leuchter kam 1916 in das Fürstenzimmer des Leipziger Hauptbahnhofs. Durch den Sturz der Monarchie schien er jedoch entbehrlich zu sein und konnte so 1928 als Leihgabe nach Meißen umgesetzt werden. Seit 1994 wird der Leuchter im Meißner Stadtmuseum aufbewahrt.

Vieles von dem, was das Funktionalistische des Meißner Bahnhofsgebäudes ausmachte und seinen Denkmalswert begründete, ist allerdings nicht mehr vorhanden. Es fehlen die mehrstufigen Beleuchtungskörper, der großflächige Stadtplan, die Ruhebänke oder der Fahrplanraum (jetzt eine Verkaufsstelle für Blumen, Obst, Gemüse). Manches ist dagegen völlig verändert worden.

Trotz aller Verluste, Umgestaltungen und Vernachlässigung ist jedoch die auf Bahnbetrieb, Reiseerleben und Stadtbild abgestimmte Architekturwirkung erhalten geblieben.

Vielleicht könnte man es dem Meißner Bahnhof ansehen, wenn die 150.000 Mark statt für die „Kulturbahnhof-Aktion“ für eine denkmalgerechte Erneuerung ausgegeben worden wären. Bleibt zu hoffen, dass eine solche dem Meißner Bahnhof bald wieder seine besondere Ausstrahlung verschafft. 

Erschienen in der Druckausgabe am 25.09.2008

Foto 1: Bahnhof Meißen um 1928, Archiv Meißner Tageblatt

Anmerkung der Redaktion: Der Bahnhof wurde von 2010 bis 2013 saniert, auch wurden 2019 originalgetreue, neue Leuchten aufgehängt, die der Bahnhofshalle wieder ein Stück Glanz der vergangenen Epoche der Neuen Sachlichkeit zurückgeben.

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