9. Mai 2024 00:46

Zwei Himmelsstürmerinnen aus Meißen

Zeugen der Stadtgeschichte: Die Ballonfahrerinnen Margarete und Elsbeth Große

Für die Stadt Meißen ist es eine besondere Auszeichnung, zwei Frauen zu ihren Bürgern zählen zu können, die als Pioniere der Luftfahrt und Alpinistik weltweit Beachtung fanden: Margarete und Elsbeth Große. Leider erinnert nirgendwo in der Stadt etwas daran – obwohl das Geburts- und Elternhaus der beiden an der Elbstraße 28 an einem Weg liegt, der von Touristen viel genutzt wird.

Dort erblickte am 19. Mai 1876 zur Freude des Kaufmanns Ernst Eduard Große und seiner Ehefrau Auguste Henriette ihr erstes Kind Johanna Margarethe das Licht der Welt. Drei Jahre später folgte am 3. Oktober 1879 die Schwester Hedwig Gertrud Elsbeth. Die kleinstädtisch-idyllische Atmosphäre in der belebten Straße beschreibt Professor Otto Richter anschaulich in seinen Jugenderinnerungen „Lebensfreuden eines Arbeiterkindes“. Er war 1852 schräg gegenüber im Hause Elbstraße 14 geboren worden und wuchs dort auf. „In dem Dutzend Häuser der unteren Elbgasse wohnten noch Schuster und Schneider, Handschuhmacher und Strumpfwirker, Sattler, Kürschner und Messerschmied, alle ihre selbst gefertigten Waren in der Werkstatt oder in Lädchen mit spärlichen Schaufenstern feilbietend.“    

Allerdings fiel die Kindheit der Schwestern bereits in eine Zeit des Umbruchs. Zwischen die kleinen Stadthäuser drängten sich größere Neubauten, die niedrigen Häuser wurden aufgestockt. Das Haus Elbstraße 28 stammte aus dem 18. Jahrhundert und war vom „Bauboom“ noch nicht betroffen. Dennoch zog Familie Große um 1890 um: in eine Wohnung in der Gerbergasse 4 (jetzt 3).

Obwohl der Vater als Sohn eines Zimmermanns aus einfachen Verhältnissen stammte, scheint er doch den Bildungsstand seiner Töchter sehr gefördert und finanziell ermöglicht zu haben. Dafür spricht das pädagogische Studium der älteren Tochter Margarete. Sie bestand es 1899 als Beste. Der Vater belohnte das entsprechend ihrem Interesse für Geografie mit einer Studienreise in die Schweiz. Ihre Schwester durfte sie begleiten. Beide nutzten die zwei Monate nach Besichtigungen in Bamberg und Nürnberg zu Studien und Vorlesungen in Genf sowie zur Erholung im französischen Chamonix am Fuße des Mont Blanc. Der überwältigende Anblick der Bergwelt weckte in den Schwestern den Wunsch, in diese Höhen einmal vorzudringen.

Zielstrebig verfolgten die Geschwister Große nun ihre Gipfelstürmer-Sehnsüchte. In jener Zeit drängten selbstbewusste Frauen vielfach nach Selbstentfaltung. Dieses Bestreben war durch die verschiedenen Frauenbewegungen geweckt worden. Es ging um Gleichstellung im Alltag, in Bildung und Wissenschaft, Beruf und Handwerk, in der Kunst. Zunehmend faszinierten auch Sport und Technik die Frauen. Beschäftigten sich Frauen mit solchen Themen, konnten sie damit öffentliche Anerkennung erreichen. Der Zugang zu diesen Feldern der Gesellschaft war jedoch für sie von günstigen Umständen abhängig und mit Erschwernissen und Opfern verbunden. So musste Margarete Große ihre Höhen-Begeisterung mit ihrem Lehrerberuf in Einklang bringen. Den versah sie bis zu ihrer Pensionierung an der „I. Mittleren Bürgerschule“, der späteren „I. Volksschule“, die heute als Neumarktschule bekannt ist. Neben ihrem Beruf widmete sie sich aber auch in Vorträgen kartografischen Fragen, arbeitete seit 1913 in der Kartenkommission des Deutschen Luftfahrtverbandes mit und verfasste als Erste Beiträge für schulgeografische Zeitschriften. Margaretes Schwester Elsbeth ging dagegen keinem Beruf nach, sie stand offenbar ihrer Schwester als Haushälterin und Begleiterin zur Seite. Die berufliche und interessensmäßige Bindung der Geschwister ließ keinen Raum für eine Familie: Beide blieben unverheiratet und ohne Kinder, zumal Lehrerinnen damals nach einer Heirat ihren Beruf aufgeben mussten. 

Bereits 1900 strebten die Schwestern eine Bergtour an. Aus finanziellen Gründen konnte sie zwar nur im Riesengebirge stattfinden, dennoch war die Besteigung der 1.603 Meter hohen Schneekoppe vielleicht gerade der günstigste Anfang. Denn der 1902 versuchte Aufstieg zum 3.797 Meter hohen Großglockner – in hohen Damenstiefeln mit Ledersohlen und ohne Bergführer – musste wegen noch zu großer Unkenntnis abgebrochen werden. Man verzichtete jedoch nicht auf eine Weiterfahrt über Villach und Triest nach Venedig und Südtirol. 1903 scheiterte nach Studien in Genua und Mailand eine Einführungstour auf das Breithorn bei Zermatt in der Südschweiz. Ein furchtbares Hochgebirgsgewitter und die erschöpften Reisekosten (die der Vater schnell per Überweisung mit 100 Reichsmark auffüllen musste) verhinderten den Aufstieg.

Auf die Alpengipfel

Erst 1904 gelang den beiden Meißnerinnen die Besteigung des Großglockners und des 3.660 Meter hohen Großvenedigers. Von nun an folgte ein Gipfelsieg dem nächsten. 1905 wurde der Cevedale (3.769 Meter) in der Ortlergruppe bestiegen, 1906 waren die Schwestern im Watzmanngebiet unterwegs, 1907 im Zillertal. Am 4. August 1908 bestiegen sie schließlich das 4.478 Meter hohe Matterhorn.           

Obwohl die alpinistischen Leistungen schon ungewöhnlich genug waren, widmeten sich die Schwestern seit 1902 auch dem Ballonfahren. Auf diesem Gebiet hatten sich bereits zwei Sächsinnen hervorgetan: 1811 und 1834 Gattin und Tochter des Professors Reichard. In Meißen gab es unmittelbare Anregung. Der Rektor der Fürsten- und Landesschule St. Afra, Professor Poeschel, unternahm seit 1904 Ballonfahrten. Margarete Große verstand sich als seine Schülerin. Zunächst begnügten sich die Schwestern jedoch als Mitfahrerinnen. So waren sie etwa am 25. März 1907 mit dem Rechtsanwalt Dr. Reichel im Ballon Bezold von Tegel nach Oberfriedersdorf bei Ebersbach in der Lausitz unterwegs.

Sicher unterstützten die Eltern die Schwestern in ihren Aktivitäten. In der Todesanzeige ist vom „innigstgeliebten, treusorgenden Vater“ zu lesen, der nach der Mutter am 7. April 1909 als „Privatus“ verstarb. Nach dem Tod der Eltern dürfte Margarete und Elsbeth eine ansehnliche Hinterlassenschaft zugefallen sein. Sie konnten sich nun eine bessere Wohnlage in der Jüdenbergstraße 20 leisten.

Margarete absolvierte am 23. Juli 1909, begleitet von Hauptmann von Funcke und Elsbeth Große ihre erste Ballon-Führerfahrt von Innsbruck über die Nordalpen bis Mährisch-Budweis. Aus finanziellen Gründen wurde allerdings mit der billigeren, aber gefährlichen Leuchtgas- statt einer Wasserstoff-Füllung gefahren. Schon am 30. September/1. Oktober 1909 folgte die erste selbstständige Damennachtfahrt ohne Begleitung von Bitterfeld über Thüringen und Sachsen nach Übigau bei Bad Liebenwerda. Am 27. März 1910 absolvierten die Schwestern eine Rekordfahrt: beim nationalen Wettfliegen in knapp 23 Stunden über 871 Kilometer von Dresden-Reick bis in die Südkarpaten. Dabei wurde auch zeitweise ein Höhenrekord erreicht: 6.000 Meter. Am 7./8. Juni 1911 waren die Schwestern bei ihrer zweiten Nachtfahrt von Nünchritz-Weißig bei Riesa nach Ungarn unterwegs.

Im Ballon durch Europa

Inzwischen hatte auch Elsbeth die Führerqualifikation des „Deutschen Luftschifferverbandes“ erworben. Dass die Geschwister bei ihren Fahrten manche Gefahren durchstehen mussten, wie auf dem Rekordflug von 1910 in einem Schneesturm oder bei einer Innsbrucker Ballonfahrt 1911 durch einen drohenden Aufprall im Bergmassiv, registrierten sie mit Selbstverständlichkeit. Margarete Große äußerte sich dazu: „Gerade das Vorhandensein von Schwierigkeiten und die Möglichkeit einer Gefahr hat … Menschen zugeführt, die wenig danach fragen, ob diese oder jene Spießer sie und ihren Sport verstehen oder nicht. … Was … zum … Luftsport lockt …, das sind … Fahrten über wilde, große Gegenden und Fahrten mit nicht alltäglichen Verhältnissen …“

Unter den über 250 Ballonfahrerinnen und elf Ballon-Führerinnen, die es bereits 1911 in Deutschland gab, nahmen die Schwestern Große einen herausragenden Platz ein. Neben ihren sportlichen Aktivitäten traten sie aber auch als Mitbegründer des „Tiroler Vereins für Luftschiff“, als Mitglieder des „Deutschen Luftschifferverbandes“, des 1908 auf Poeschels Anregung gegründeten „Sächsischen Vereins für Luftfahrt“ sowie des „Österreichischen Alpen-Klubs“ in Erscheinung. Welche Aura die Geschwister trotz aller Eigenart umgab, schildert die spätere Künstlerin Many Jost in den Erinnerungen an ihre Schulzeit 1911/12: „Die Französischlehrerin, die wir im 7. Schuljahr bekamen, war ein seltsames Wesen. Sie hatte sehr rote Haare, die auf dem Kopf oben zu einem Krönchen gesteckt waren, darin ein schwarzes Samtband mit einer schönen Schleife vorn. Das Gesicht war nicht schön und voller Sommersprossen. An einer schwarzen Seidenschnur baumelte auf ihrer weißen Bluse ein ‚Kneifer‘, den sie beim Lesen auf ihre Nase setzte. Sie trug immer weiße, hochgeschlossene Blusen, schwarze, lange weite Röcke mit einer sehr engen Taille. Ein schwarzer Lackgürtel ließ diese Taille noch schmaler und dünner erscheinen. … Im 8. Schuljahr erfuhren wir, daß sie mit ihrer Schwester den Mont Blanc ohne Führer bestiegen hatte. … Das nötigte uns großen Respekt ab. Als aber bekannt wurde, dass diese zwei mutigen Frauen auch noch Ballonfahrerinnen waren, sahen wir unsere komische Französischlehrerin fast als ‚Übermenschen‘ an.“

Der 1. Weltkrieg machte den sportlichen Betätigungen der Geschwister Große ein Ende. In dieser Zeit veränderten die Schwestern abermals ihren Wohnsitz in das 1914/15 erbaute Haus Albertstraße 4 (jetzt Kerstingstraße). Erst nach dem Ende des Kriegs konnten sie ihrer Begeisterung wieder nachgehen und die jährlichen Bergtouren in das Hochgebirge fortsetzen – unter anderem  mit der sechsmaligen Besteigung des Mont Blanc, wofür sie 1926 im Beisein der gesamten dortigen Bergführer und ihres Präsidenten eine Ehrenurkunde überreicht bekamen. Das war eine sehr seltene Würdigung deutscher Alpinistinnen. Höhepunkt ihrer alpinistischen wie luftsportlichen Leistungen war jedoch 1928 die Umkreisung dieses höchsten europäischen Berggipfels mit einem „Salmson“-Doppeldecker.

Fernab von politischen Bekundungen sorgten die Schwestern durch ihren Anspruch auf das Selbstverwirklichungsrecht der Frauen für eine Stärkung der Frauenbewegung. Margarete äußerte sich dazu in den Mitteilungen des „Deutsch-Österreichischen Alpenvereins“ vom April 1924 („Die Frau in den Bergen“) und vom Juli 1925 („Sollen wir deutschen Bergsteigerinnen einen eigenen Verein … anstreben?“). Großes pflegten zahlreiche und grenzüberschreitende Kontakte, etwa zum Alpinisten und Augenarzt Dr. Karl Blodig in Wien und zum Hochgebirgsmaler Edward Theodore Compton in Feldafing am Starnberger See, einem gebürtigen Engländer. Auch damit förderten sie das Verständnis für eine neue Rolle der Frauen.

Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die 1933 an die Macht gelangten, gab es durchaus Beifall für Frauen mit einem starken Leistungswillen. Das zeigt die Verehrung für die Fliegerinnen Elly Beinhorn und Hanna Reitsch. Doch die Geschwister Große fanden in dieser Zeit kaum noch Beachtung. Zwar steht eine nähere Untersuchung dazu noch aus, doch scheint dies – trotz möglicher NSDAP-Pflichtmitgliedschaft zumindest der Lehrerin Margarete – an ihrer Zurückhaltung gelegen zu haben. Auch entsprach ihr Frauentyp nicht dem rassistischen Ideal von „Glaube und Schönheit“: Die dickleibige Elsbeth und Margarete – mit ihrem Lorgnon ganz Lehrerin der „Alten Schule“ – hoben sich davon ab. Immerhin wurde aber Margarete Große anlässlich ihres 40. Dienstjubiläums am 3. Oktober 1936 an der Neumarktschule eine schlichte Feier zuteil. Noch bis mindestens 1944 unterrichtete sie vertretungsweise. Die Lehrerkollegen verschafften ihr durch den Hinweis auf die sportlichen Leistungen den Respekt der Schüler. Margarete zog 1937 noch einmal in einen Neubau in die Tzschuckestraße 8. Erstmals lebte sie jetzt getrennt von ihrer Schwester, die in der Dr.-Wilhelm-Frick-Straße 6 (jetzt Uferstraße) ihr neues Zuhause fand.

Buch mit Erinnerungen

Mit dem Kriegsende und dem gesellschaftlichen Umbruch von 1945 und der folgenden Abkehr vom bürgerlichen Gesellschaftsbild gerieten die beiden Schwestern völlig in Vergessenheit. Elsbeth Große verstarb öffentlich fast unbemerkt am 8. Mai 1947. Zuletzt hatte sie wieder mit ihrer Schwester zusammen in der Tzschuckestraße 8 gewohnt. Margarete Große nutzte die folgenden Jahre und die Einsamkeit zur Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen. Sie erschienen 1951 im Wiener Verlag der „Österreichischen Bergsteiger-Zeitung“: „Frauen auf Ballon- und Bergfahrten. Ein Lebensbuch. Dem Andenken meiner einzigen Schwester und Lebensgefährtin Elsbeth Große gewidmet“. Im gleichen Jahr, am 31. August, endete auch Margarete Großes Leben – ohne Nachruf, ohne Würdigung, lediglich durch ein kurzes Inserat in der Sächsischen Zeitung vom 4. September angezeigt. Die Asche beider Schwestern wurde jedoch nach Frankreich gebracht und von ihrem alten Bergführer vom Gipfel des Mont Blanc in den dortigen Eisschluchten der ewigen Ruhe übergeben. Eine öffentliche Ehrung dieser beeindruckenden und außergewöhnlichen Frauen stünde ihrer Geburts- und Heimatstadt gut zu Gesicht. Das Geburtshaus Elbstraße 28 würde sich dazu besonders eignen.

Foto: Elsbeth und Margarete Große als Ballonführerinnen 1911, Archiv Gerhard Steinecke

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