30. Dezember 2024 19:10

Paul Scheurich: Ein Wanderer zwischen Welten

Der Künstler Paul Scheurich (1883 – 1945) prägte das Meissener Porzellan im frühen 20. Jahrhundert. Unser Autor Dr. Hans Sonntag erinnert an seinen wechselvollen Lebenslauf.

Mit seiner Arbeit in Meißen wurde Paul Scheurich (1883 – 1945) berühmt. Anfang des 20. Jahrhunderts gab der Künstler dem Meissener Porzellan neuen Glanz. Am 18. November 1945 starb Scheurich: Sein 70. Todestag ist Anlass, an ihn zu erinnern.

Wie kam Paul Scheurich, der zunächst mit Zeichnungen und Grafiken bekannt geworden war, zum Werkstoff Porzellan? Er selbst schrieb mehrfach über seine Beweggründe. „Daher bevorzuge ich auch im Allgemeinen unbedeutende Vorgänge, meist heiteren, oft literarischen Inhalts“, heißt es da zum Beispiel. Ein andermal schreibt er: „Porzellan bleibt eben immer heiteres Spiel.“ Dann wieder: „Jedes Genre ist erlaubt, nur das langweilige nicht. Diesen hübschen Satz von Voltaire möchte ich durch einen zweiten auch klassischen ergänzen: Vive la bagatelle.“

Das klingt nun etwas nach Beliebigkeit, Vergnüglichkeit, Anpassung – und ja: Oberflächlichkeit! Bediente er mit seinen Arbeiten vielleicht nur die Amüsiersucht gut betuchter Kunden, die von Theater zu Theater, von Skandal zu Skandal, von Sensation zu Sensation „a la bagatelle“ hetzten?

Seine ersten Porzellan-Figuren aus dem Ballett „Karneval“ wurden von den Inszenierungen der Ballett-Compagnie Sergej Djaghilews angeregt. 1910 und 1912 waren diese in Berlin gezeigt worden. Paul Scheurich schuf die Figuren 1912, im Jahr darauf wurden sie erstmals in Meissener Porzellan ausgeformt.

Bezeichnenderweise wählte er dieses charmante und liebenswerte Sujet aus der Biedermeierzeit nach dem Klavierzyklus „La Carnaval“ von Robert Schumann. Das Ballett blieb ein Thema für den Porzellangestalter Scheurich. Erst 1930 entstand noch die zweifigurige Gruppe „Petruschka“ nach der Ballettmusik von Igor Strawinsky. Auch jenes Tanzstück war schon 1912 in Berlin aufgeführt worden.

Für die Meissener Porzellan-Manufaktur waren vor allem die Figuren aus dem „Karneval“, die auch „Figuren aus dem Russischen Ballett“ genannt wurden, kommerziell überaus erfolgreich. Zwischen 1918 und 1932 wurde jede der Figuren zwischen 300 und 500 mal verkauft. Bei der „Petruschka“-Gruppe sah die Bilanz ganz anders aus. 1943 kamen erstmals drei Exemplare in Weiß zum Verkauf, 1947 ein weiteres weißes Exemplar. Die Resonanz war bescheiden. 13 Jahre lang wollte niemand diese Porzellangruppe kaufen!

Überhaupt lässt sich Paul Scheurichs Bedeutung für das Meissener Porzellan nicht nur mit wirtschaftlichen Maßstäben messen. Auf der Pariser Weltausstellung 1937 erhielten sechs Figuren von ihm einen Grand Prix. Dennoch waren mehrfach von ihm gestaltete Plastiken keine Publikumserfolge. Wenig verkauft blieben beispielsweise die „Stürzende Reiterin“, die „Dame mit Hirschkuh“, eine „Amazone mit Amor“ oder eine „Dame mit Fächer“.

Nähere Betrachtung wert ist Paul Scheurichs Weg in der Nazi-Zeit. Ab 1933 hatten sich die politischen Verhältnisse in Deutschland grundsätzlich geändert. Adolf Hitler wurde am 30. Januar 1933 Reichskanzler, die Nationalsozialisten übernahmen die Macht. Am 20. Mai 1933 wurde in der Porzellan-Manufaktur Meissen Direktor Max Adolf Pfeiffer „beurlaubt“. Der Affront gegen ihn wurde auch auf Paul Scheurich übertragen, weil er durch Pfeiffer besondere Förderung erfahren hatte. Scheurichs Arbeiten galten jetzt als nicht „zeitgemäß“. Seine Porzellane erbrachten nicht mehr den benötigten kommerziellen Erfolg.

Im November 1936 übernahm Wolfgang Müller von Baczko die Leitung der Meissener Porzellan-Manufaktur. Der neue „Chef“ war von 1920 bis 1924 Schüler und Assistent Pfeiffers an der Manufaktur Meissen gewesen. Von 1928 bis 1932 hatte er in Karlsruhe an der Staatlichen Majolika-Manufaktur gearbeitet. Auf dem Meissener Chefsessel blieb er schließlich bis 1940. Müller von Baczko schätzte persönlich die Arbeiten von Paul Scheurich. Doch an der grundlegenden, politisch orientierten Ablehnung von Scheurichs Werk durch das sächsische Ministerium für Wirtschaft und Arbeit konnte er nichts ändern. Die Zustimmungen zum weiteren Ankauf von Modellen des Künstlers wurden verweigert, die Zusammenarbeit mit Paul Scheurich brach zusammen.

Dabei hatte der Künstler andernorts großen Erfolg. 1935 erhielt Paul Scheurich, der immer in Berlin gelebt und gearbeitet hatte, den Auftrag zur Ausstattung des neu eröffneten Opernhauses in Berlin-Charlottenburg. Er schuf ein grandioses Vorhang-Gemälde, das 13 mal neun Meter maß. Er kombinierte Szenen und Gestalten aus Opern von Verdi und Wagner, Mozart und Richard Strauss, Rossini, Weber und Meyerbeer, um die Phantasie der Opernbesucher anzuregen. Außerdem schuf er für das Opernhaus kostbare Bronzen, mit denen die Räume gestaltet wurden. Alles ging im Zweiten Weltkrieg verloren.

1937 wurde die Deutsche Botschaft in London mit mehr als einem Dutzend von Scheurichs Porzellanen ausgestattet. Niemand nahm daran Anstoß. Die Gattin des Botschafters und späteren deutschen Außenministers von Ribbentrop ließ sich sogar Figuren von Paul Scheurich in Sonderausführungen herstellen.

Während Scheurichs „neue“ Figuren kaum noch den Weg in die Öffentlichkeit fanden, bestellte das Außenministerium über die Königliche Porzellanmanufaktur Berlin bei ihm ein Service und einen Tafelaufsatz von riesigem Umfang. Zum Thema „Geburt der Schönheit“ feierte der Künstler die Antike mit der schaumgeborenen Venus, Tritonen, Hippokampen, Nixen und Delphinen.

In Berlin traf Scheurich übrigens bald auf einen guten Bekannten aus der Meissener Zeit. Im August 1938 war der bei Meissen geschasste Max Adolf Pfeiffer Direktor der Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin geworden. In seinen Erinnerungen schreibt er: „So wurde auch das Palais des Außenministers in der Wilhelmstraße innerlich völlig umgebaut und neu eingerichtet. Der neue Speisesaal enthielt eine Festtafel von über 20 Meter Länge, für diese galt es, ein Speiseservice von entsprechend repräsentativem Charakter und einen würdigen Tafelschmuck zu schaffen. Mit aller Energie schaltete ich mich ein. Das waren die großen Aufträge, die ich suchte, und es stand für mich fest, wir mussten die Sieger in dem Widerstreit der vielen Meinungen und Bewerber bleiben, und wir sind es geblieben. Die Geschirre des großen Staatsservices ließ ich von Fräulein Petri entwerfen, leider kamen sie nicht ganz in der Form des ersten Entwurfes zur endgültigen Ausführung…Um so glücklicher war ich bei dem Tafelschmuck. Es war klar, dass nur Scheurich für diesen in Betracht kommen konnte. Als erwünschtes Thema waren mittelalterliche Sagen, Rheingold, die Nibelungen oder dergleichen, genannt, die typischen Vorschläge unkünstlerischer Menschen… Die uns gestellten rein literarisch gesehenen Themen waren ganz unmöglich, Kunst macht man nicht mit dem Verstand, so ließ ich Scheurich getrost freie Hand, und in kürzester Zeit waren die Entwürfe zur ‚Geburt der Schönheit’ fertig und zwar in so meisterhaften Rötelzeichnungen, dass diese selbst Kunstwerke ersten Ranges darstellten. Ich fuhr mit diesen zu Frau von Ribbentrop, und der Erfolg war, wie erwartet, durchschlagend, alle übrigen, zum Teil schon sehr weit gediehenen Vorarbeiten der sonstigen Bewerber wurden abgeblasen, und wir erhielten den Auftrag. Es war etwas ganz anderes geworden, als der Auftraggeber sich gedacht hatte, aber niemand konnte sich dem Zauber dieser genialen Entwürfe entziehen, selbst der amusischste Mensch spürte hier das Walten eines ganz großen Künstlergeistes. Die Jahre 1939 und 1940 waren der Fertigstellung der Modelle gewidmet, das Jahr 1940 brachte die Ausführung in Porzellan. In unvorstellbar kurzer Zeit schuf Scheurich die ganze Folge…In der Zeitschrift ‚Die Kunst im Deutschen Reich’ vom Juni 1941 habe ich einen Teil der zu dem Tafelschmuck gehörigen Gruppen und Figuren veröffentlicht, wenn das Ganze vor die Augen der Welt treten wird, wird sich erweisen, dass es das größte Kunstwerk ist, das die deutsche Porzellankunst in den letzten 150 Jahren hervorgebracht hat …“

Paul Scheurich blieb in seiner Kunst ein Wanderer zwischen Welten. In seinem Schaffen überschnitten sich der Anschluss an die Moderne und die Tradition, wobei auch gestalterische Inkonsequenzen nicht zu übersehen sind. Scheurichs Lavieren zwischen „Art Deco“ und „Meissener Tradition“ ist stets ein recht vorsichtiges Abtasten der Möglichkeiten, den neuen Stil in Meissen einzubringen und dabei gewichtige Traditionen der Manufaktur nicht aufzugeben.

Die rein dekorative Seite des „Art Deco“ war für Meissen kaum akzeptabel. Grelle Farben und abstrakt-kubistische Dekore passten nicht auf die hiesigen Manufaktur-Porzellane. So brachte Paul Scheurich vor allem formale Aspekte des „Art Deco“ ein. Man sieht an seinen Figuren überlängte, gertenschlanke Frauenkörper, Marcell-Wellen-Frisuren oder Pfauenfächer. Scheurichs Porzellanplastiken zeichneten sich durch Themen und Sujets aus, die unter den bürgerlichen Kunst- und Kunstgewerbe-Käufern wegen des kostbaren Materials und der delikaten, noblen und diffizilen Verarbeitung Anerkennung fanden. Das Neue an Scheurichs Entwürfen waren die reduzierte Staffage der Figuren, die Orientierung auf das Material Porzellan und der grazile Bewegungsreichtum seiner Plastiken. Paul Scheurich war ein exzellenter Porzellangestalter.

Künstlerisch wie ästhetisch waren seine Arbeiten den spätbürgerlichen Kultur- und Kunstvorstellungen von einer „heilen Welt“ verhaftet. Die war aber eine Traum- und Scheinwelt. Paul Scheurichs „Strumpfbanderotik“ war bereits zu seiner Zeit anachronistisch. Sie wirkt verklemmt, wenn man bedenkt man, dass auch in den 1920er und 1930er Jahren bereits alles gezeigt werden konnte. Erinnert sei hier an Josephine Baker oder Barbara La Maar. Ein Schlager von Cole Porter bringt es auf den Punkt. „Anything goes“ sang Ethel Merman anno 1934. Übersetzt heißt es da: „Früher galt das Blitzen des Strumpfes als schockierend, aber nun weiß Gott, ist alles möglich!“

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