8. Mai 2024 12:08

Aufschwung, Untergang und ein neuer Anfang nach Jahrzehnten

Zeugen der Stadtgeschichte: Das „Meißner Tageblatt“

28 Jahre alt war der Dresdner Buchdrucker Christian Ehregott Klinkicht, als er sich ein selbstständiges Gewerbe rüstete. Am 25. August 1798 erwarb er in Meißen die einzige dort genehmigte Buchdruckerei und am 3. September die Bürgerrechte der Stadt. Dem ältesten Sohn eines Huf- und Waffenschmiedes aus Oberottendorf bei Sebnitz eröffnete sich eine Lebensaufgabe. Die literarische Aufklärung und der Einfluss der Französischen Revolution von 1789 hatten das Bürgertum anspruchsvoller und auch selbstbewusster gemacht. Das Interesse an den Erzeugnissen des Buchdruckerhandwerks wuchs.

Gründer war Drucker

Klinkichts Tatkraft und der recht preiswerte Erwerb für 650 Taler ermöglichen ihm rasch, die von seinem Vorgänger Büttner vernachlässigte Werkstatt in der Görnischen Gasse 37 in Schwung zu bringen. Aus den ersten Inseraten im „gemeinnützigen Wochenblatt“ ist zu schließen, dass eine Zusammenarbeit mit dem Buchbinder Uz in der Fleischergasse Buchdrucker Klinkicht durchaus förderlich gewesen sein könnte. Klinkicht musste sich rasch Achtung erworben haben, wenn er bereits am 5. Dezember 1801 unter Berufung auf die „Anliegen einiger Patrioten bzw. verschiedener achtungswürdiger Männer“ dem Stadtrat die beabsichtigte Herausgabe eines Wochenblattes – der achten sächsischen Zeitung – ankündigte und dafür um Vergünstigung bat.

Klinkichts Selbstverständnis, das Wochenblatt nicht aus eigennützigen, sondern gemeinnützigen Motiven herauszugeben, begründete er ausführlich. Er wollte damit sowohl dem geschäftlichen als auch alltäglichen Leben in Wahrheit und Humanität Förderer sein und auf einen allgemein erschwinglichen Preis achten. Der lag bei sechs Pfennigen je Ausgabe, etwa so viel wie eine große Semmel. Bei allerdings nur vier Seiten im A4-Format und Selbstabholung erscheint er heute recht anspruchsvoll. Die erste Ausgabe vom 2. Januar 1802 stellte sich sehr bürgerfreundlich vor: mit aufgeklärten pädagogischen Belehrungen, der eindringlichen Forderung nach Geburtshelfern (Accoucheurs), praktischen Hinweisen und gewerblichen Angeboten. Freilich entsprach das alles nicht den heutigen Erwartungen an eine Zeitung: Die damaligen Blätter entbehrten doch in der Regel aktuelle Nachrichten, so dass beispielsweise zu den kriegerischen Ereignissen von 1813 lediglich Inserate und Bekanntmachungen Anhaltspunkte bieten. Dies erklärt sich einerseits aus dem Anspruch, möglichst wertefrei zu informieren. Zum anderen fehlte aber eine gesetzlich garantierte Pressefreiheit. Zu der kam es erst ab 1848. Dennoch bleiben die im Meißner Stadtarchiv fast lückenlos überlieferten Zeitungsbände eine wertvolle stadtgeschichtliche Quelle. Ab 1829 wurde örtlichen, ab 1831 auch den Ratsmitteilungen Platz eingeräumt. Erst ab 1856 kam es dann zu einer regelmäßigen Information über lokale und internationale Geschehnisse.        

In dieser Zeit entwickelte sich das „Meißner Wochenblatt“ zu einem Markenzeichen. Rasch sorgte es auch im Umland für Lokalblätter, so ab 1837 in Nossen und ab 1848 in Wilsdruff. Christian Ehregott Klinkicht konnte bereits 1814 ein Grundstück am Theaterplatz 7, dem Standort einer mittelalterlichen Badstube, erwerben. Zugleich wurde er Besitzer des Nachbargrundstücks. Der Verlag blieb bis 1945 am Theaterplatz, die nachfolgende Redaktion der „Sächsischen Zeitung“ bis 1996.

Der Sitz des 'Tageblattes' am Theaterplatz um 1870, Foto: Repro
Der Sitz des ‚Tageblattes‘ am Theaterplatz um 1870, Foto: Repro

Es gab Konkurrenz

Klinkicht wurde Mitbegründer der Sparkasse, ermöglichte dem 1799 erstgeborenen Sohn Moritz eine eigene Druckerei. Den 1810 geborenen jüngsten Sohn Heinrich Christian beteiligte er ab 1830 am Unternehmen. Heinrich Christian Klinkicht übernahm es nach dem Tod seines Vaters 1845 ganz. Schon 1840 war die einmalige wöchentliche Erscheinungsweise an Sonnabenden um den Mittwoch erweitert worden. Ab dem 1. Januar 1848 gab es unter der neuen Bezeichnung „Meißner Blätter“ eine dreimalige Ausgabe: dienstags, donnerstags und sonnabends. Das gelang, ungeachtet der Konkurrenz mehrerer Stadtzeitungen, vor allem des Buchdruckereibesitzers Cato in der Lorenzgasse 4. Bei Maschinenausfall übernahm Cato sogar den Druck für Klinkicht.

Klinkichts hatten eine vielseitige Verlagsarbeit mit Buchhandlung, ihr Verlag punktete mit spezielle Angeboten, wie „Bayonner Wasser“ zur Beseitigung von Fettflecken (Wochenblatt vom 28. Mai 1842). Auch die ständige Modernisierung – 1854 eine eiserne Schnellpresse, 1865 eine Dampfmaschine – und Aktualisierung – sicherten den Fortbestand der Zeitung. Ab 1856 erschien sie sechsmal in der Woche. Eine Rolle spielte dabei offenbar auch der Stellenwert als Organ des Stadtrats für die amtlichen Bekanntmachungen. Ab 1859 war die Zeitung Amtsblatt auch des Bezirksgerichts und Gerichtsamtes beziehungsweise des späteren Amtsgerichts sowie der Amtshauptmannschaft. Man hatte die enge Verbindung zur Stadtverwaltung, indem zeitweise Stadträte – Degen und Lindner – die Aufgaben eines Redakteurs wahrnahmen und Christian Heinrich Klinkicht selbst von 1860 bis 1876 als unbesoldeter Stadtrat wirkte.

Klinkichts Blatt war zweifellos ein wesentlicher Förderer der Entwicklung Meißens aus der mittelalterlichen Enge zum Industriestandort. Bezeichnend dafür sind die Inserate von Unternehmen, die Erörterungen eines Bahnanschlusses oder die Fahrpläne der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt. Darüber hinaus kamen aber auch alle Bereiche des täglichen Lebens zur Geltung. Während des Vormärz und der Revolutionsjahre 1848/49 botsich die Zeitung sogar als Plattform den fortschrittlichen Kräfte an, die auch Louise Otto-Peters nutzte. Selbst nach der Reichseinigung von 1871 und dem damit verbundenen deutschen Großmacht-Gebahren bemühte sich der Herausgeber, dem 1801 abgegebenen Bekenntnis treu zu bleiben und sich links- oder rechtsextremer Tendenzen zu enthalten. Beispielsweise ist eine Distanz zu antisemitischen Bestrebungen zu spüren, andererseits aber auch zur Sozialdemokratie – was aber von bürgerlich-humanistischen Demokratieverständnis der Klinkichts nicht anders zu erwarten war. Ehregott Heinrich Klinkicht, Sohn des 1885 verstorbenen Christian Heinrich und seit 1876 Geschäftsführer, entsprach diesem Leitbild als Freimaurer der Meißner Loge, der er seit 1892 angehörte. Seinen Wohnsitz verlegte er standesgemäß aus der Enge der Altstadt auf den Plossen, wo die Familie 1898 in der Marienhofstraße 2 eine neu erbaute Villa bezog.

Stetig erweitert

Als 1898 das 100. Firmenjubiläum begangen wurde, zeigte sich, wie Klinkichts es bis dahin verstanden hatten, mit der technischen Revolution Schritt zu halten. Nicht nur, dass der Firmenbereich durch Anbauten ständig erweitert wurde. Man nutzte nach einer Umstellung 1880 auf Gasmotorenkraft ab 1891 die Elektrizität. Seit Mitte der 1880er Jahre standen eine Zweifarbenmaschine, ab 1890 eine achtseitige Rotationsmaschine sowie 1896 eine erste Setzmaschine zur Verfügung. Zugleich vergrößerte sich die Belegschaft von zehn Mitarbeitern im Jahr 1857 auf 50 bis 55. Das sicherte auch weiterhin ein Bestehen gegen die Vielfalt anderer Presseorgane. Zu denen zählten um die Jahrhundertwende der „Meißner“ und der „Cöllner Anzeiger“ der Gebrüder Pfeffer in der Görnischen Gasse 33 und ab 1908 die Meißner Ausgabe der sozialdemokratischen „Volkszeitung“ gehörten. Bildberichte im Schaufenster und Beilagen sorgten für ein anhaltendes Leserinteresse. Man produzierte eine Sonntags-Beilage, eine illustrierte Beilage, eine landwirtschaftliche Zeitung (ab 1892) und schließlich eine Beilage zur Heimatkunde (ab 1921) sowie zu „Technik und Praxis“ (ab 1924). So gerüstet, vermochte das Meißner Tageblatt allein von 1896 bis 1904 die Zahl der Abonnenten von 6.000 auf 7.800 zu erhöhen, aber auch trotz Papierknappheit und Militärzensur die bitteren Jahre des 1. Weltkriegs zu überstehen.

So warb der Tageblatt-Verlag im Jahr 1910, Foto: Archiv
So warb der Tageblatt-Verlag im Jahr 1910, Foto: Archiv

Der Meißner „Kulturpapst“

Eine bedeutende Rolle spielte beim „Meißner Tageblatt“ seit 1885 als Kunstberichterstatter und ab 1887 als Hauptschriftleiter der 1855 in Schwarzenberg geborene Absolvent der Grimmaer Fürstenschule Dr. phil. Gotthard Winter. Unter seiner Redaktion gewann die Zeitung durch seine hohe Fachkenntnis und seinen kulturverständigen Weitblick beträchtlich an Informationswert. Seine Mitgliedschaft im Vorstand des Kunstvereins, als Mitglied der Museums-Kommission, im Verkehrsverein, als Redner bei bedeutsamen Ereignissen sowie als Autor von Theaterstücken machten ihn zudem zu einem Meißner „Kulturpapst“. Welche Anerkennung er hatte, zeigten die vielen Ehrenmitgliedschaften, die Verleihung des Professorentitels 1909 und 1916 des Kriegsverdienstkreuzes für seine journalistische Arbeit im Krieg. Er war der erste sächsische Journalist, der diese Auszeichnung bekam. Privat verlangte der Krieg Winter aber ein großes Opfer ab. Er entriss ihm den Sohn Wolfgang, der 1915 in der Champagne fiel. Wenig später verlor Winter auch seine vom Schmerz des Verlustes gebrochene Ehefrau. Eine zweite, 1925 geschlossene Ehe mit Klara Katharina Heise dauerte dann bis zu seinem Tod 1842.

Die überragende lokale Bedeutung Winters machte es sicher neuen Kunst- und Literaturverständigen schwer, sich neben ihm zu platzieren. Wenn dem seit 1920 in Meißen wohnhaften Autor Will Vesper anfangs noch gelegentlich Beiträge abgenommen wurden, muss er doch früher oder später mit dem Theaterkritiker Winter in Konflikt geraten sein, wie das Ausbleiben weiterer Beiträge anzeigt. Ganz offenkundig signalisiert das die Meißner Ausgabe der sozialdemokratischen „Volkszeitung“ vom 16. Juli 1927, die der Würdigung Will Vespers mehr als eine Seite widmete. Sie empfahl auch als Erste am 17. Januar und 7. Februar 1931 Vespers Buch „Sam in Schnabelweide“, das sich trotz Umschreibungen erkennbar auf das Meißen jener Jahre bezieht. Beim „Meißner Tageblatt“ fand das Werk keinerlei Beachtung, offenbart sich doch die lustige Kleinstadtgeschichte als eine Schmähschrift gegen das „Meißner Tageblatt“, hier „Abendblatt“ genannt. Herausgeber Ehregott Heinrich Klinkicht alias Horst Waldemar Peinlich sowie Redakteur Professor Gotthard Winter, erkennbar in Professor Gottlieb Sommerwind, werden als verspießerte Kleingeister der Lächerlichkeit preisgegeben.

Was Vesper jedoch aus offenbar persönlichen Gründen in ein schlechtes Licht zu stellen trachtete, blieb vonseiten der Betroffenen unbeachtet und totgeschwiegen. So galt Gotthard Winter auch nach seinem Eintritt in den Ruhestand im November 1928 weiter als „der geistvolle, Wahrheit suchende und Wahrheit verteidigende feingeistige Plauderer und allem Schönen, Edlen und Guten wegweisende“ Journalist, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus durch Zurückhaltung auszeichnete. Dagegen verblasste Will Vespers Glorienschein in Meißen. Er trat 1931 der NSDAP bei, wurde bekannt durch seine antijüdischen Hasstiraden ab 1933. 1936 wandte er sich von der Familie und von Meißen ab und zog nach Triangel bei Braunschweig.   

Die Herausgeber-Familie Klinkicht etwa um 1940, Foto: Archiv
Die Herausgeber-Familie Klinkicht etwa um 1940, Foto: Archiv

In der vierten Generation

Die Leitung des Tageblatt-Verlags lag zu diesem Zeitpunkt bereits in den Händen der vierten Generation, seit 1921 vertreten durch Erhard Friedrich Klinkicht. Er hatte sich mit dem Studium der Journalistik in Leipzig und Grenoble zielgerichtet darauf vorbereitet. Zielgerichtet setzte er auch auf moderne Technik. 1926 ließ er die Druckerei zur Lorenzgasse zu auf den dabei freigelegten Grundmauern der 1637 zerstörten Laurentiuskirche und anstelle des bisherigen Gartens vom einstigen Erbsteinschen Freihof erweitern. Zugleich bekräftigte er selbstbewusst den Anspruch von Verlag und Zeitung auf einen Anteil an der Stadtentwicklung. Das zeigt die umfangreiche Sonderausgabe vom 31. Dezember 1926 anlässlich des 125. Zeitungsjubiläums. Zwar betont er auch in seinem Geleitwort die Familientradition, „ausgleichend zu wirken“. Jedoch – untrüglich unzufrieden mit der demokratischen Vielfalt der Weimarer Republik und der Mitsprache der organisierten Arbeiterschaft – erwartete er dafür eine alles einigende „Führertat, die … von einer einzelnen überragenden Persönlichkeit getragen wird“. 

Das gewaltsame Ende des Parteienstreits nach der Machtergreifung der Nazis erschien vielen als Aufbruch in „geregelte Verhältnisse“. Es war der trügerische Schein einer „Ordnung“, der auch die Klinkichts und viele deutsche Journalisten geblendet haben dürfte. Für solche Denkweisen sprechen Friedrich Klinkichts Ausführungen zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai 1933 vor seiner Belegschaft. Er berief sich auf die „Freiheit des überparteilichen Deutschen, die nicht gleichzustellen ist mit einem landläufigen Liberalismus“ und betonte: „Die durch den Eifer Hitlers zu organischem Wachstum befreite nationale deutsche Bewegung im Verein mit der pflichttreuen Gesinnung eines Hindenburg, der Demut eines Papen und vieler anderer, diese treueste vaterländische Gesinnung deutscher Menschen hat dieses einheitliche Wollen einer Gesamtheit geboren, hat die Plattform zu solcher Führertat bereitet, hat auch den Kristallisationspunkt der Kräfte heute entschieden, und er heißt Hitler.“

„Der eigene Nutzen auch des anderen Segen.“ – So sollte die Gemeinnützigkeit des „Meißner Tageblattes“ gewahrt bleiben. Doch die Verhältnisse in der Nazi-Zeit beschränkten solche Grundsätze immer mehr. Bereits am 4. Oktober 1933 machte dies ein Gesetz zur Gleichschaltung der Presse, das „Schriftleitergesetz“, deutlich. Es ersetzte nicht nur die Begriffe „Redakteur“ und „Chefredakteur“ durch „Schriftleiter“ bzw. „Hauptschriftleiter“. Er legte auch die Voraussetzungen für die Ausübung dieser Berufe nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten fest. Unter anderem waren „Schriftleitern“ keinen nichtarischen Partner gestattet. Hinzu kamen seit Juli 1933 die täglichen Presseanweisungen der Presseabteilung des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“, die Sprachregelungen für den politischen Nachrichtenteil vorgaben. Auf regionaler Ebene überwachte schließlich der Presseamtsleiter der NSDAP-Ortsgruppe die gewünschte Ausrichtung. So musste auch im Lokalteil der noch verbliebene Spielraum freier Berichterstattung sehr bedacht sein.

Einen Tag verboten

Wie schnell man sich den Unwillen der Partei zuziehen konnte, erfuhren die Herausgeber des „Meißner Tageblattes“ schon bald. Sie waren so naiv, am 19. März 1935 neben der Todesanzeige des NS-Frontkämpferbundes für den Weltkriegsteilnehmer und Arzt Dr. Bernhard Zimmermann auch die der Freimaurerloge „Zur Akazie“ im Gedenken an „sein Wirken für die hohen Aufgaben der Freimaurerei“ als einstiger „Meister vom Stuhl“ aufzunehmen. Sicher spielte noch die freimaurerische Bindung des erst 1934 verstorbenen Heinrich Klinkicht eine Rolle. Als „Gesinnungstäter“ kam aber Verlagsdirektor Hugo Kranke infrage. Er war nicht nur für den Anzeigenteil verantwortlich, sondern auch seit 1924 Logenmitglied.

Da das Freimaurertum neben den Juden und Kommunisten zu den besonderen Feindbildern der Nazis zählte – die Meißner Loge hatte sich schon im April 1933 aufgelöst – erwarteten das „Meißner Tageblatt“ und besonders Kranke schärfste Reaktionen. Nachdem das Erscheinen der Zeitung „wegen dieses Lobgesangs auf die Freimaurerei“  offiziell für einen Tag, dem Bestand im Stadtarchiv zufolge gar für zwei Tage – 21. und 22. März – verboten worden war, setzten am 28. März eine NSDAP-Kundgebung gegen Freimaurerei im „Hamburger Hof“ sowie deutschlandweit das Hetzblatt „Der Stürmer“ eindeutige Drohzeichen gegen „eine Zeitung des nationalsozialistischen Deutschlands“, die es gestattete, „den Nationalsozialismus und seinen Führer zu verhöhnen“.

Sehr bald fand sich auch Gelegenheit, Schriftleiter Dr. Karl Birckner eine Lektion zu erteilen. Er hatte es sich am 27. Juni 1935 herausgenommen, einem antijüdischen Propagandamarsch nicht die nötige Ehrerbietung zu erweisen. Am 4. Juli prangerte ihn das nationalsozialistische Kampfblatt Sachsens, der „Freiheitskampf“, unter der Überschrift „Merkwürdige Zeitgenossen“ an. Nun wurde beim „Meißner Tageblatt“ vermieden, was missfallen konnte, und die erzwungene NS-Ausrichtung zur bestimmenden Lesart.

Zwar blieb noch immer die Möglichkeit, sich im Lokalteil auf unpolitische Alltagsereignisse oder heimatkundliche Betrachtungen zurückzuziehen, auch durch Auswahl und Aufmachung Wertungen zu vermitteln. Da ist etwa ein Bericht Birckners vom 18. November 1937 über eine lyrische Lesung der Baronin Monica von Miltitz auf Schloss Siebeneichen, in dem Hochachtung für die „kunstsinnige Schlossherrin“ und ihr „Streben nach Erfüllung alles Hohen und Schönen“ ausgedrückt wurde – deutlich im Widerspruch zur Missachtung dieser Anthroposophin durch die Nazis. Aber auch zur Tagespolitik wagte sich das „Tageblatt“ mitunter mehr als Lokalzeitungen andernorts. Einen solchen Eindruck vermittelt die knappe Meldung über die Ereignisse der Reichspogromnacht in Meißen in der Ausgabe vom 10. November 1938. Ohne Hetztiraden wird vermerkt: „Allen jüdischen Geschäften des Ortes wurden die Fenster eingeschlagen. Sämtliche Läden mussten geschlossen werden. Die männlichen Juden wurden in Schutzhaft genommen.“

Zunehmend angepasst

Dennoch hatte die Nazi-Politik Erfolg, man passte sich zunehmend an die Machtverhältnisse an. Friedrich Klinkicht trat 1957 der NSDAP bei. Besonders nach dem Ausbruch des Kriegs 1939 glich sich das „Tageblatt“ vollends der NS-Terminologie an. Friedrich Klinkichts und der parteilose Karl Birckner waren zur Wehrmacht ein berufen worden. NSDAP-Mitglied Max Zimmermann bestimmte nun den Inhalt der Zeitung. Mit besonderem Stolz verzeichnete das „Tageblatt“ beispielsweise die Erfolgsbilanz seines jüngsten Schriftleiters Wilhelm Müller, geboren 1913 in Wölkisch und Sohn des dortigen Bürgermeisters, dass er am 14. August 1942 im 14-Uhr-Nachrichtendienst des „Großdeutschen Rundfunks“ als Oberleutnant und Führer einer schweren Flakbatterie für die Vernichtung von zwölf Panzern in 30 Minuten hervorgehoben worden war. Noch in der Agonie des Krieges wurde rühmend seine Auszeichnung mit dem Ritterkreuz im Januar 1945 hervorgehoben. Müller wurde Ende Mai 1945 in Österreich tot bei Steyr aus der Enns geborgen.

Indes wurde der Krieg auch in Meißen spürbar. Das „Tageblatt“ füllte sich zunehmend mit Gefallenenanzeigen, während der Umfang immer kleiner wurde. Vermutlich wegen der modernen Ausstattung blieb die Zeitung von den Stilllegungsaktionen im Mai 1941, Februar/April 1943 und Juli/August 1944 verschont. Sie gewann dadurch sogar an Bedeutung, wie 1943 durch die Übernahme der Kapazitäten des eingestellten „Wilsdruffer Tageblattes“. Betrug der Umfang noch zu Kriegsbeginn acht Seiten, so verringerte er sich bald auf vier, wechselweise auf zwei und schließlich ab dem 12. Februar 1945 dauerhaft auf zwei. Mit dem Beginn der Kämpfe um Meißen am 24. April 1945 schrumpfte auch das Format kurzzeitig um die Hälfte, bis das Blatt ab dem 1. Mai noch einmal in der üblichen Größe erschien. Offenbar vom Beschuss betroffen, wurde der Zugang zur Geschäftsstelle vom Theaterplatz 7 zum Baderberg verlegt. Das Ende kam mit der letzten noch vorliegenden Ausgabe vom Freitag, dem 4. Mai 1945.

So wenig die Durchhalteberichte dieser Tage noch Aufmerksamkeit verdienten, so lebenswichtig waren jedoch die lokalen Mitteilungen, Bekanntmachungen, Inserate und Überlebenshinweise. Sogar für Unterhaltung sorgte die Schriftleitung bis zuletzt, wie die 141. Folge aus dem Roman „Die große Probe der Anna Casteller“ von Brünnhilde Hofmann in der Schlussausgabe aufzeigt. Einem seltsamen Schwanengesang gleicht daneben der im Stil eines Feuilletons und frei von Nazi-Terminologie geschilderte Besuch zweier Offiziere bei ihrem einstigen Fürstenschulprofessor. Der mahnte zwar zur Tapferkeit, aber zugleich zur Frömmigkeit. Seine Abschiedsworte sind die letzte Botschaft des „Meißner Tageblattes“: „… wir wollen nicht einen Augenblick den Glauben verlieren, dass über allem, was geschieht und was Menschen tun, eine höchste Macht weise, gerecht und stark waltet.“  

Nach dem Einzug der Sowjetarmee am 6. Mai wurde drei Tage später eine antifaschistische Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Mücke gebildet. Sie verfügte sofort am 9. Mai die Beschlagnahme der Druckerei und des Verlags des „Meißner Tageblattes“ zugunsten der Stadt Meißen. Zur Begründung hieß es: „Das Unternehmen hat durch seine Zeitung zur Kriegsverlängerung wesentlich beigetragen. Der Besitzer ist zur Zeit flüchtig und muss als Kriegsverbrecher bewertet werden.“ Das entsprach zwar damals dem Bedürfnis nach Abrechnung, lässt aber auch ein historisches Augenmaß außer Acht.

Eine neue Zeitung in Nachfolgerschaft des „Tageblatts“ wurde schließlich ab dem 24. April 1991 in Meißen herausgegeben. Den traditionellen Namen durften die Herausgeber Albert Künster und Polo Palmen in den ersten Monaten aus markenrechtlichen Gründen noch nicht verwenden. So startete das Blatt als „Meißner Tagespost“ bevor es ab dem 7. Mai 1992 – 190 Jahre nach der ersten Gründung – in Meißen wieder ein „Meißner Tageblatt“ gab. 

Foto 1: So warb der Tageblatt-Verlag im Jahr 1910, Ausschnitt, Foto: Archiv

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