Ein Rückblick auf den Zustand der Meißner Altstadt vor der „Wende“: Neben Abrissplanungen gab es auch Zeichen der Hoffnung. Enthusiasten wollten alte Häuser retten.
Wer sich an Meißen in den Jahren der späten DDR erinnert, hat Bilder des Verfalls vor Augen. Bröckelnde Fassaden, leere Häuser und Lücken in den Dächern. War die Altstadt überhaupt noch zu retten? „Besuchen Sie Meißen, solange es noch steht“: Das hatte 1987 der Architekt Claus-Dirk Langer geschrieben. Es war ein Hilferuf, den die Meißner sehr wohl vernahmen, die Behörden der DDR aber nicht hören wollten. Eine Ausstellung zweier Fotografinnen unter dem Titel „Kehrseiten“ konnte im Frühjahr 1989 in der Frauenkirche stattfinden. Sie zeigte den Verfall der Stadt und zog tausende Besucher an. Es ist nicht zuviel gesagt: Die Sorge um den Erhalt der Bauten war in Meißen eines der wichtigsten Anliegen derer, die Ende 1989 die „Wende“ forderten.
Auch Architektin Antje Hainz begrüßte damals, dass sich Veränderungen ankündigten. Endlich. Mitte der 1980er Jahre war sie nach dem Studium in Dresden nach Meißen gekommen. Ihr Mann stammt aus der Stadt, die beiden Architekten fanden Arbeit im damaligen VEB Kreisbau. Antje Hainz arbeitete in der Abteilung für Projektierung. Es klingt ein wenig wie in Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“: Enthusiasmus trifft auf sozialistische Mangelwirtschaft. „Ich hatte im Studium neue Methoden der Altbaurekonstruktion kennengelernt“, erzählt Antje Hainz. Baudenkmale zu erhalten, wurde auch in der DDR als Aufgabe verstanden. Jedoch vergleichsweise selten umgesetzt. „Das erste, was ich in Meißen planen musste, war ein Ersatzneubau für ein Haus am Markt.“
Der wurde glücklicherweise nie errichtet. Doch „Neubau statt Erhaltung“ war nicht nur in anderen Städten der DDR, sondern auch in Meißen spätestens in den 1980er Jahren das Gebot der Stunde. „Es gab hier an einigen Häusern denkmalgerechte Rekonstruktionen“, erinnert sich Antje Hainz. „Daneben gab es aber auch Abriss und Neubau.“ An der Kerbe verschwand auf diese Weise Mitte der 1980er Jahre ein komplettes Quartier alter Bürgerhäuser. Neue Gebäude wurden an ihrer Stelle errichtet. „Der erste größere Neubau in der Meißner Altstadt seit dem Bau des Kaufhauses am Kleinmarkt 1948/49“, konstatiert Architekt Claus-Dirk Langer in seinem Buch „Wendezeichen“, einer Bestandsaufnahme der baulichen Situation Meißens in den 1980ern.
Wurde in der Altstadt – selten – neu gebaut, bemühte man sich darum, die Gebäude in die historischen Straßenzüge einzufügen. Die Neubauten an der Kerbe passten sich zumindest der Straßenführung der Görnischen Gasse an, schreibt Langer. Antje Hainz erinnert sich an damals neuartige Techniken, mit denen in der DDR Neubauten in Altstädte eingefügt werden sollten. Und in Meißen sollte gänzlich Neues erprobt werden. „Da ging es um die LPC, die ‚leichte Plattenbauweise’. Die war damals revolutionär.“ Die Neubauten an der Neugasse sollten eigentlich so errichtet werden, doch die Technologie war bis 1989 noch nicht so ausgereift, dass sie auch eingesetzt werden konnte. Dennoch: Am Ideal des industriellen Bauens hielt die DDR fest – und das auch in den Altstädten. Wohnungsmangel war ein Phänomen, das den Staat bis zu seinem Ende begleitete.
Treffender könnte von einem Mangel an bewohnbaren Wohnungen gesprochen werden. Denn viele Häuser der Meißner Altstadt standen leer und rotteten vor sich hin. In den späten 1980er Jahren lebten in dem einst dicht besiedelten Stadtkern noch knapp 2.000 Menschen. Es gab also durchaus Wohnungsleerstand – in den vernachlässigten Altstadt-Quartieren. Die sollten auch in Meißen nach und nach Neubauten mit hohem DDR-Komfort weichen. „Die Ausstattung der Wohnungen in den alten Häusern war auf dem Stand von 1900“, sagt Antje Hainz. „Das war alles andere als attraktiv.“ In der Situation von Entvölkerung und Verfall blühten die Abriss-Planungen. „Da lag schon einiges in den Schubladen“, so Antje Hainz. Die „Wende“ kam der Abrissbirne gerade noch zuvor.
Doch es gab auch in der späten DDR-Zeit Enthusiasten, die sich für die Meißner Altstadt begeisterten. Sie erwarben mitten in den verfallenen Quartieren Häuser, um sie selbst zu rekonstruieren. Das junge Architekten-Paar Hainz kaufte ein Haus an der Burgstraße. Die Eigentümer-Struktur in der Altstadt hatte sich in den Jahren der DDR nach und nach gewandelt. Die Häuser gehörten dort zunächst vor allem Privatleuten. Doch die gerieten im Sozialismus schnell in eine Zwangslage. Die Mieten waren staatlich verordnet niedrig. Baumaterial für Renovierungen, Modernisierungen oder den schlichten Erhalt ihrer Häuser gab es kaum. Die Besitzer konnten die Immobilien nicht mehr unterhalten und verschenkten sie deshalb an die Kommunale Wohnungswirtschaft.
In den 1980er Jahren wurde es für Privatleute möglich, Häuser aus dem Bestand der KWV zu erwerben. Es waren einige der alten, verfallenen Immobilien der Altstadt. Familie Hainz war nicht die einzige in Meißen, die den Mut aufbrachte, sich selbst an eine Rekonstruktion zu wagen. „Es gab da ein paar Leute, die auch diese Möglichkeit nutzten. Wer das machte, wollte sich selbst Wohnraum schaffen. Der wollte aber auch ganz bewusst ein altes Haus: weil er das Individuelle schätzte und etwas für die Altstadt tun wollte.“ Meißens Stadtkern erlebte in den späten 1980er Jahren auch Zeichen des Aufbruchs.
Sie waren allerdings mühsam erkämpft. Antje Hainz weiß noch, wie schwierig es in den letzten Jahren der DDR war, Baumaterial zu beschaffen. Schon den staatlichen Baubetrieben fehlte es an Dachsteinen, Zement, Fliesen … Private Bauherren hatten noch mehr Probleme an das nötige Material zu kommen. „Man musste wissen, wann es wo etwas gab. Man brauchte einen Autohänger und wenn möglich auch Sachen, die man tauschen konnte, um an das zu kommen, was man wollte.“
Die Bauarbeiten im Haus an der Burgstraße hatten begonnen, als sich ab Ende 1989 die politischen Verhältnisse von Grund auf wandelten. Für Bauherren war die „Wende“ dennoch alles andere als eine einfache Zeit. Baumaterial gab es jetzt zwar, doch zu westlichen Preisen. Die Währungsunion im Sommer 1990 stellte die Finanzierung manches Bauvorhabens infrage. Bis sie und ihre Familie schließlich in das rekonstruierte Altstadt-Haus einziehen konnten, habe es noch bis 1992 gedauert, sagt Antje Hainz. „Und da waren die Arbeiten auch noch nicht beendet. An einem alten Haus ist eigentlich immer etwas zu tun.“ Heute führen Antje Hainz und ihr Mann in Meißen ein Architekturbüro, das auf die Sanierung alter Häuser spezialisiert ist.
Und wie ist heute der Zustand der Meißner Altstadt? Besser, als viele Meißner meinen, sagt Hainz. „Auch wenn die Zahl natürlich nicht exakt ist, schätze ich, dass 80 Prozent der Sanierungen geschafft sind.“ Natürlich gäbe es immer noch Häuser in schlimmem Zustand.
Die Görnische Gasse ist auch für Antje Hainz ein Zeichen dafür, dass in Meißen noch etwas zu tun bleibt. Doch dass die Sanierung der Altstadt einen langen Atem brauche, habe sich schon in den 1990ern gezeigt. Zwar wurden nach der Wende viele historische Gebäude von neuen Eigentümern gekauft. Doch bis Sanierungsarbeiten begannen, dauerte es oft Jahre. Das lag mal an fehlenden Fördermitteln, mal an Abschreibungsmodalitäten. Ab den frühen 1990er Jahren wurde zunächst die öffentliche Infrastruktur der Altstadt auf Vordermann gebracht. Neue Wasser- und Abwasserleitungen wurden gebaut, die Straßen saniert.
Dabei half Meißen auch, dass die hiesige Altstadt gleich nach der Wende zur Modellgebiet für Denkmalsanierung erklärt wurde. Das sei auch dem Erbe der DDR zu verdanken, sagt Antje Hainz, und verweist auf die Arbeit der Meißner Stadtarchitekten. Die konnten im Sozialismus zwar nur wenig für die verfallenden Baudenkmale tun, hatten aber die Gebäude der Altstadt exakt erfasst und schon Planungen in der Schublade, wo welche Bauprojekte dringend umzusetzen waren. Das habe Meißen den Start in die neue Zeit leicht gemacht.
25 Jahre nach der Wende stellen sich neue Probleme. Die meisten Häuser in der Meißner Altstadt sind zwar saniert. Dennoch stehen Geschäfte leer. Die Mieten sind trotz des historischen Ambientes bei weitem nicht so hoch wie in Radebeul oder Dresden. Vom starken Einwohnerzuwachs der Landeshauptstadt und des Dresdner Ballungsraums hat Meißen bislang kaum profitiert. Hier wirkt sich stattdessen die hochwassergefährdete Lage der Altstadt auf den Zuzug und das städtische Leben aus. Lagen wie der Theaterplatz und die Neugasse haben Schaden genommen. Wer will angesichts der Flutgefahr dort wohnen oder mieten? Die Meißner Altstadt bleibt eine Baustelle – auch ein Vierteljahrundert nach der „Wende“.