21. November 2024 08:36

Glücksmomente in der Nachkriegszeit

Unser Autor Dr. Hans Sonntag beschreibt besondere Kindheitsmomente in Meißen

Mein Enkel, kurz vor dem Abitur stehend, fragte mich unlängst, wie ich eigentlich in der sogenannten „DDR“ arbeiten, lernen, lieben und studieren konnte, denn dieses bolschewistisch-halbrussische Land muss doch eine einzige Schreckens- und Terrorwelt gewesen sein? Während seiner Schulzeit von der 1. bis zur 12. Klasse im vereinten Deutschland hatte er kaum konkrete Informationen über das Leben in der DDR im Unterricht erhalten. Nach einer gewissen Überlegungsphase entschloss ich mich, ihm meine erlebten „Glücksmomente“ als Nachkriegskind mitzuteilen, so dass er sich anhand meiner Mitteilungen selbst ein Urteil bilden konnte.

Konnte ein Kind, das im September 1944 geboren wurde, Glücksmomente in der Nachkriegszeit der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) überhaupt erleben?

Es war eine Zeit der Stromabschaltungen, der Kerzenbeleuchtung im Treppenhaus und in  den Wohnräumen, Warteschlangen bei Sommerhitze, Regen und Schnee vor den Geschäften und mit dem nachfolgenden egoistischen Gerangel in den Geschäften, der permanente Warenmangel, Lebensmittel mit fragwürdigen Qualitäten, Kohlemangel und damit verbunden die wenig beheizten Wohnräume, ruinöse Schulbänke noch aus der Kaiserzeit, Mord und Diebstähle wegen Nichtigkeiten und ein fehlender, in sowjetischer Gefangenschaft lebender Vater, den man gar nicht kannte und noch nie gesehen hatte.

Trotzdem gab es Glücksmomente in meinem jungen Leben, die bis ins hohe Alter noch als solche in den Erinnerungen lebendig geblieben sind. Als Kind lebt man eigentlich wertungsfrei, weil man noch keine Vergleiche kennt. Aber Glücksmomente entstanden durch Freude an etwas und dieses Gefühl gab es aber eben auch nicht immer, denn es gab auch Ärger und damit auch Bestrafungen, weil man gelogen hatte oder beim Stehlen von Kirschen oder Äpfeln in den Gärten außerhalb der Stadt erwischt wurde oder man war frech, also rüpelhaft gegenüber älteren Personen gewesen, die sich dann gekränkt bei den Eltern beschwerten. Dann gab es meist „Strafarbeiten“ zu schreiben von mindestens fünfzehn oder zwanzig Heftseiten oder Hausarrest für eine Woche und das hatte nichts mit Glücksmomenten zu tun. Die Zensuren in der Schule waren meistens so, dass sie  weder freudvolles Glück noch harsche Schelte nach sich zogen. Aber die wirklichen Glücksmomente prägten eine positive Lebenseinstellung, egal in welchen Verhältnissen man lebte. Ich kannte Schulfreunde und Freundinnen, die in extrem ärmlichen Verhältnissen lebten und dennoch frohen Mutes durch den Tag kamen und lustig, freundlich, hilfsbereit und kameradschaftlich waren.

Geleefrüchte und sowjetische Zigaretten

Mein frühestes Glückserlebnis hatte ich, als mir die sowjetischen Offiziere, die ein Zimmer in unserer Wohnung beschlagnahmt hatten, bunte und süße Geleefrüchte schenkten, sogar dann, wenn ich in der Badewanne lag. Sie freuten sich über mein Lachen. Sicherlich waren es Väter, die sich dabei an ihre vielleicht gleichaltrigen Kinder in der Sowjetunion erinnerten und die sie nur höchst selten besuchen konnten.  Selbst nach 70 Jahren erwachen noch immer beim Kosten von Geleefrüchten die Erinnerungen und ganz nebenbei wird auch der starke Machorka-Geruch ihrer Zigaretten mit dem geknickten Mundstück lebendig. Als armer Student habe ich meine Zigarettenhülsen mit dem geknickten Mundstück selbst mit Tabak gestopft. Wenn ich beim Rauchen beobachtet wurde, fragte andere manchmal, ob ich Russe sei und da ich noch ganz gut Russisch sprach, konnte ich die Frage schelmisch beantworten.

Statt Spielplatz ein Paradies auf dem Dach

Ich kann mich an keinen öffentlichen Spielplatz für Kinder in Meißen erinnern, weil es vermutlich auch keinen gab. Wir hatten in unserem Haus auf der Fleischergasse in der dritten Etage eine relativ große Dachterrasse, auf der in einer Ecke für uns Kinder ein Sandkastenareal eingerichtet war. Alle Kinder im Haus konnten dort oben unter freiem Himmel unter Aufsicht der Mütter im Sand spielen, Kuchen backen oder auch einen kleinen See in einer Schüssel anlegen, denn im Dachdurchgang befand sich der Waschraum für die Wäsche der Mieter mit einem beheizbaren Waschkessel und entsprechenden Wäschetrögen. Wir Kinder konnten laut sein und frische Luft atmen. Auch wenn sich die Erwachsenen am Wochenende im Sommer sonnten, konnten die Kinder in ihrer Spielecke bleiben, niemand störte sich daran. Von mir existieren sogar einige Fotos aus dieser Zeit von diesem Dachparadies für glückliche Kinder.

Geigenunterricht auf dem Plossen

Mit etwa elf Jahren erhielt ich wunschgemäß als Weihnachtsgeschenk eine Schülergeige und mein Halbbruder ein gemietetes Klavier. Beide bekamen wir dann privaten Geigen- und Klavierunterricht. Meinen ersten Unterricht erhielt ich von Frau Taschner, die auf dem kleinen Plossen in einem schäbigen Haus lebte und deren Sohn der berühmte deutsche Geiger Gerhard Taschner war, der auch von seiner Mutter einst unterrichtet wurde. Ihr Freund war der berühmte Dirigent Franz Konwitschny, den sie oft in ihren Gesprächen erwähnte. Nach ihr erhielt ich Unterricht von Herrn Tauber, der Konzertmeister am Meißener Stadttheater war. Ich war so verliebt in meine Geige, dass sie direkt unter meinem Bett in ihrem mit grünem Filz ausstaffiertem Geigenkasten schlummern konnte. Am nachfolgenden Weihnachtsfest konnten wir unsere Eltern schon mit musikalischen Kleinigkeiten erfreuen. Manchmal spielte ich bei Schulveranstaltungen, Kinderweihnachtsfeiern kleinere Musikstücke und  anlässlich der Goldenen Hochzeit meiner Großeltern sogar größere Stücke gemeinsam mit meinem Geigenlehrer, denn Großvater hatte sich ein Stück aus dem „Waffenschmied“ von Albert Lortzing gewünscht:“ Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar“. Dafür bekam ich neben viel Beifall  sogar eine kleine finanzielle Anerkennung. Wenn das kein Glücksmoment war! Nach zweieinhalb Jahren Geigenunterricht sollte ich nach meinem Geigenlehrer an einem Schülerwettbewerb teilnehmen, worüber ich so entsetzt und verschreckt war, dass ich schließlich froh und glücklich war, als wir ein halbes Jahr später Meißen verließen und nach Karl-Marx-Stadt zogen.

Gefährliches Badevergnügen

Die lustigsten Glücksmomente erlebte ich mit einigen Schulfreunden in den Schwimmbädern Bohnitzsch, Oberau und später in den beiden Steinbrüchen an der Niederauer Straße. Nach Bohnitzsch liefen wir meistens zu Fuß und nach Oberau fuhren wir mit den Fahrrädern, denn Geld für eine Busfahrt erhielten wir nicht. In den Steinbrüchen war das Baden kostenlos und das Wasser war sehr sauber. In den beiden anderen Bädern musste man Eintritt bezahlen.  Wir brauchten nur ein Handtuch zum Abtrocknen. In diesen Badeeinrichtungen erlebte ich die glücklichsten Stunden. In den Steinbrüchen musste man sehr vorsichtig sein, denn man wusste nicht genau, wo sich Felsvorsprünge unter dem Wasser verbargen.

Italienische Schulfreundschaft

Den interessantesten Glücksmoment erlebte ich in der 5. Klasse, als ein Mädchen aus Italien zu uns kam. Ihre Großmutter und Mutter stammte aus Meißen und der Vater vermutlich aus Tirol. Vom Klassenlehrer erhielt ich den ehrenwerten Auftrag, dem Mädchen den Einstieg in die russische Sprache zu erleichtern und das begann natürlich mit dem Erlernen der kyrillischen Buchstaben und des russischen Alphabets. Angelika wohnte im Nebenhaus bei ihrer Großmutter, wo wir auch gemeinsam die Hausaufgaben erledigten. Sie war ein freundliches und schönes Mädchen, aber unsere Lernfreundschaft dauerte nur ein Jahr, denn ab dem 6. Schuljahr lebte ich in Karl-Marx-Stadt.

Wenn ich während der Schulferien bei meiner Großmutter in Meißen war, sahen wir uns natürlich wieder und es gab viele Neuigkeiten zu besprechen. Von ihr lernte ich auch etliche italienische Wörter und Redewendungen, die mir einige Jahre später hilfreich waren, als ich in der EOS neben Russisch auch Latein hatte und dabei der Klassenbeste war. Mit ihr erwachte das Interesse an Italien, so dass ich dann als angehender Abiturient im Haus des Deutschen Kulturbundes vor allem Lichtbildervorträge besuchte, die Italien zum Thema hatten, obwohl ich natürlich wusste, dass ich erst als Rentner nach Italien hätte reisen können.

Äffchen auf der Stadtparkhöhe

An manchen Wochenenden besuchten unsere Eltern mit uns Jungs in Meißen die Gaststätte „Gebhardts Weinschank“ auf der Stadtparkhöhe, um dort nachmittags Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Für uns Kinder waren die im Hof vorhandenen Zerrspiegel eine lustvolle Wunderwelt, von deren Verwandlungen wir begeistert waren. Man wurde winzig klein oder riesengroß, ganz dick oder ganz dünn, Augen und Nase wurden unheimlich und die Beine waren krumm. Auch Mutter und Vater amüsierten sich vor diesen Spiegeln und lachten mit uns über diese Späße. Im Hof gab es sogar ein kleines Affengehege und man konnte die Äffchen herrlich nahe beobachten. Der Mittelpunkt im Gartenbereich war eine runde Tanzfläche, denn man konnte hier nach der Musik einer kleinen Kapelle tanzen, was auch die Eltern taten. Die Gaststätte wurde immer von vielen Gästen aufgesucht, denn es gab auch einen schönen Wanderweg durch den Stadtpark hinauf zur Gaststätte im Grünen. Von Prof. Georg Oskar Erler besaßen wir eine Radierung, die vier spielende Musiker mit Bass, Geige, Waldhorn und Klarinette nebst Ausblick von der Gaststätte aus auf den Meißener Burgberg darstellt. Wir Kinder waren stets überglücklich, wenn wir zu „Gebhardts“ wanderten.

Die Welt der Literatur aus der Leihbücherei

Seit dem 8. oder 9. Lebensjahr durften wir mit unserer Mutter die private Leihbücherei der Frau Rödel in Meißen besuchen und dabei auch Bücher entleihen, die uns interessierten, wobei Mutter die Situation prüfte und Frau Rödel die letzte Entscheidung traf. Damit eröffnete sich für uns die Welt der Literatur. Ich las besonders gern die Märchen von Wilhelm Hauff und die von Hans Christian Andersen und betrachtete gern die Bildbände über fremde Länder, wie Afrika, China und  Indien. Mein Halbbruder las am liebsten Bergsteigerbücher, wie die von Luis Trenker.  Das waren nicht nur Glücksmomente, sondern wahre Glücksräusche, die mindesten zwei oder drei Wochen anhielten, denn dann mussten weitere Gebühren für die Verlängerung bezahlt werden. Und wir lernten, dass wir pfleglich mit den Büchern umzugehen hatten, denn Frau Rödel war diesbezüglich sehr streng. Die Bücher der Kinderbibliothek in der Stadtbibliothek waren bei weitem nicht so interessant, wie die von Frau Rödel. Frau Rödel hatte natürlich auch ein Regal hinter dem Vorhang, wo die Kriminalromane von Edgar Wallace oder die Bücher von Karl May standen. Aber nur bestimmte und langjährige Leser durften an die Bücher hinter dem Vorhang und unsere Mutter gehörte dazu, denn sie war auch schon als junge Frau bei Frau Rödel Leserin.

Glücksmomente der besonderen Art gab es dann, wenn es in der Konditorei Klöckner in der Fleischergasse Waffeln zu kaufen gab. Meine Mutter war regelrecht närrisch nach diesen Waffeln, aber sie gab es eben nicht immer oder sie waren schon ausverkauft, bevor meine Mutter vom Dienst kam. Daheim wurde dann Margarine und höchst selten Butter mit braunem Zucker gemischt, so dass eine Creme entstand, die zwischen zwei Waffeln aufgetragen wurde. Ansonsten konnten wir uns kein Gebäck in einer Konditorei leisten; nur Brötchen kauften wir beim Bäcker. Weißen Zucker kannte ich überhaupt nicht, denn  bei uns wurden nur Sacharintabletten zum Süßen verwendet. Aber manchmal gab es auch braunen, nicht raffinierten Zucker zu kaufen. Kunsthonig mit 10 % Bienenhonig stellte die „Zuckersiede-Fabrik“ in Meißen her, ebenso den angeblich echten Bayerischen Malzbonbon, der uns allen sehr gut schmeckte.

Kohlen in der ersten Etage

„Gerade noch Glück gehabt“ hieß es, wenn wir rechtzeitig unseren Keller im Haus auf der Gerbergasse ausräumen konnten, bevor das Hochwasser kam. Großmutter hatte sich am gegenüberliegenden Haus an der Triebisch einen Stein in der Hauswand gemerkt, so dass sie wusste, dass höchste Eile geboten war, wenn das Wasser kurz davor stand. Die Kohlen wurden in ein Zimmer in der ersten Etage verbracht und die Einweckgläser kamen unter den Küchentisch in der Küche. Wir Kinder hatten kräftig dabei zu helfen, Eimer mit Kohlen zu befüllen und die Gläser mit Obst nach oben zu tragen. Und wenn dann das Hochwasser kam und wir nicht mehr aus dem Haus gehen konnten, spielten wir überglücklich mit einem Stück Holz in Ermanglung eines Schiffes, dass wir an einen Faden banden und vom Fenster aus ins Wasser ließen. Mit Begeisterung spielten wir Schiffsunglücke. Für ein richtiges kleines Modellschiff hatten wir natürlich kein Geld, also musste ein Holzscheit diese Funktion übernehmen.

Der Traum vom eigenen Fahrrad

Sensationell glücklich machte uns Jungs die Fahrradwacht im Schulplatz an der Roten Schule, denn abends gegen 18 Uhr durften wir die tagsüber nicht abgeholten Fahrräder in die Lagerräume der Roten Schule fahren. Da konnte man mit uralten aber auch mit intakten Fahrrädern erstmalig fahren, aber man musste dabei eigentlich das Fahrradfahren erst erlernen. Man musste sehr vorsichtig sein und durfte keinesfalls mit dem Rad hinfallen.  Die älteren Jungs  genossen natürlich sogar das freihändige Fahrradfahren und wir Anfänger stiegen zunächst gar nicht auf die Räder, sondern schoben es, auf einer Pedale stehend, bis zum Einlagerungseingang.  Diese unbezahlte und hilfreiche Situation beflügelte uns natürlich, selbst auch ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Schließlich fanden wir auch, wo auch immer, Teile von Fahrrädern, die wir einsammelten und dann zu einem Fahrrad mühsam zusammen bauten, denn Geld hatten wir alle nicht. Auch aus alten Teilen von defekten Kinderwagen, bauten wir uns „Kistenmobile“, die mit beiden Füßen zu lenken waren. Auf geraden Strecken musste natürlich immer einer die rollende Kiste hinten anschieben, aber Fahrer und Anschieber wechselten sich kameradschaftlich gegenseitig ab.

Schlittschuhlaufen an der Badgasse

Schlittschuhe brachten uns Freude und Wut, denn das Anlegen der Schlittschuhe mit einem Spezialschlüssel an die Schuhsohlen verhieß elegante Freuden auf dem Eis. Aber wehe, wenn beim Abnehmen der Schlittschuhe die Sohlen eingerissen oder kaputt waren, dann gab es Ärger daheim, denn die Schuhe mussten repariert werden und das kostete Geld. Aber eigentliche, richtige Schlittschuhe besaßen wir nicht, also blieb uns nichts anderes übrig, als immer nur zu hoffen, dass nichts mit den Sohlen passierte. In Meißen gab es zwei Eisbahnen, eine direkt an unserer Neumarktschule und eine an der Badgasse. Schlittschuhlaufen war das schönste winterliche Vergnügen in unserer Kinderzeit. Auch mein Bruder fuhr gern mit seinen Schlittschuhen, die er auch regelmäßig schleifen ließ, um besonders gut gleiten zu können.

Eine Libellengeburt erlebte ich als Glücksmoment mit meiner Mutter, die  mich morgens ganz zeitig aus dem Bett holte, um etwas an einer Pflanze zu beobachten, die am Fenster in einem Blumentopf wuchs. Auf der Grünpflanze bewegte sich ruckartig eine Art Raupe, die einem fetten Regenwurm glich.  Nach und nach, ganz langsam platzte die behaarte Haut auf und eine Art zusammengeklebter Käfer wurde sichtbar und plötzlich entfaltete sich der Körper des Tieres und die durchsichtigen Flügel der Libelle entstanden langsam hauchdünn und wurden bläulich bunt. Als die Libelle voll entfaltet war, verblieb sie eine Weile ganz still sitzen und plötzlich erhob sie sich und flog davon. Wir waren beide ganz begeistert, so etwas gesehen zu haben, denn Libellen kannten wir natürlich durch unsere Wanderungen in der Natur, aber  diese Art der Verwandlung hatten wir noch nie gesehen.

Professionelles Faschingsschminken

Glückliche Verwandlungen erlebten wir zur Faschingszeit, denn im Haus der Großeltern befand sich ein Kosmetikgeschäft der Firma „Charlotte Meentzen“ und die freundlichen und überaus schönen Kosmetikerinnen luden uns ein zum kostenlosen Schminken, denn offenbar hatten sie auch viel Vergnügen an unseren Verwandlungen dank ihrer Schminkfertigkeiten. Wir gingen oft als „Rothäute“, also Indianer oder als „Neger“*, wobei viel Schminke verbraucht wurde. Manchmal ging meine Cousine als furchterregende Hexe, so dass sie intensiv auf „alt“ geschminkt werden musste, so dass wir sie kaum noch erkannten. Während der Pubertät wurden wir Jungs fachfraulich betreut, denn keiner von uns wollte mit Pusteln und Flecken herumlaufen. Als Dankeschön gewährte unsere Großmutter den Damen hin und wieder eine kostenlose Übernachtung in einem separaten Zimmer mit Blick auf die Triebisch. Dafür durften wir auch das Geschäftstelefon kostenlos benutzen, was wie ein „Fünfer“ im Lotto war, denn niemand aus unserer Familie besaß daheim ein Telefon.

Wenn ein Zirkus in Meißen gastierte, besuchten wir generell eine Vorstellung und staunten über den Mut der Artisten am Trapez oder auf dem Hochdrahtseil oder im Tiger-und Löwenkäfig. Besonders beeindruckend waren die Frauen, die in Strohkörbe eingeschlossen wurden, dann mehrfach mit Säbeln durchbohrt wurden und anschließend putzmunter wieder zum Vorschein kamen, wenn der Deckel geöffnet wurde. Wir waren sprachlos und applaudierten lange für diesen Auftritt. Den Zirkus liebten wir sehr und wir hatten immer Hochachtung vor den Leistungen der Artisten. In der 9. Klasse, als ich für ein Jahr auf einem Dorf wohnte,  übte ich mich in unserer Scheune im Jonglieren und auf einem Drahtseil im Balancieren, denn ich hätte gern die Fachschule für Artistik in Berlin besucht. Als ich erfuhr, dass man auf dieser Schule nicht das Abitur ablegen konnte, verzichtete ich auf diesen Berufswunsch. Das Interesse an der Zirkuskunst blieb jedoch lebenslang  bestehen.

Schülerarbeit im Triebischtal

Geldverdienen durch Arbeit garantierte Glücksmomente. Bevor wir 1956 nach Karl-Marx-Stadt umzogen, hatte ich eine Verdienstquelle bei der unverheirateten Schwester meiner Großmutter gefunden, die im Meißener Triebischtal ein Kurzwarengeschäft führte, dass stark von den Arbeiterinnen der Jutefabrik frequentiert wurde. Tante Helene hatte eigentlich ihren kleinen Laden von früh 8 Uhr bis abends 18 Uhr geöffnet und stand täglich, außer sonntags, hinter der Ladentheke, um die Kundinnen zu bedienen. Eines Tages fragte sie mich, ob ich ihr das Schaufenster umdekorieren könnte, denn sie habe neue Ware erhalten, aber keine Zeit, um sie im Schaufenster präsentieren zu können.  Das Schaufenster musste ausgeräumt und gesäubert werden, die innere Seite des Schaufensters musste geputzt werden, dann musste die neue Ware ausgesucht und  gut sichtbar im Schaufenster ausgestellt werden. Abschließend musste ich außen die Fensterfront putzen und die Hauskante abwaschen und den Fußweg vor dem Geschäft kehren. Die Prozedur dauerte etwas mehr als zwei Stunden und dafür erhielt ich 1,50 Mark der DDR. Tante Helene war glücklich, dass ich gewillt war, auch weiterhin diese Aufgabe zu übernehmen, denn einmal im Monat sollte das Schaufenster erneuert werden. Immerhin verdiente ich pro Monat eine Mark fünfzig!

Eisige Glücksmomente erlebte ich auf dem Nachhauseweg von der Schule zu meiner Großmutter, denn auf dem Hahnemannsplatz gab es eine Eisdiele, in der man für 10 Pfennige eine Kugel Eis in der spitztütigen Waffel erhielt. Und es gab zwei verschiedene Sorten. Die Eismaschinen faszinierten mich mit ihren weiß-roten Streifen, die sich ununterbrochen drehten. 10 Pfennige waren nicht zu teuer, dass Geld hatte ich mir durch die Abgabe von Altpapier, Gläsern, Flaschen und Stofflumpen beim Altstoffhandel verdient. Von der Eisschleckerei habe ich aber niemanden etwas gesagt, denn Großmutter hätte es nicht für gut erachtet, vor dem Mittagessen Eis zu essen.

Schatz in der Elbe

Ein einziges Mal erlebte ich in den 1950er Jahren, dass die Elbe total zugefroren war, so dass man vom Sportplatz auf der Siebeneichenerstraße über die Elbe zur Roten Gasse laufen konnte, wobei ein markierter Weg geschaffen worden war, der Sicherheit versprach. An den Wochenenden wanderten viele Einwohner Richtung Siebeneichen und liefen dann über die zugefrorene Elbe auf die andere Seite und von dort zurück in die Stadt. In unserer Wohnung hing eine Fotografie vom Fotografen Adolf Heckmann aus dem Jahr 1947, wobei riesige Eisblöcke zu erkennen waren. Von einem Übergangsweg ist aber nichts zu sehen.

Etwas zu finden, konnte auch Glücksmomente auslösen! Am Hafenkai von Meißen sah ich im getrockneten Schlamm eines einstigen Hochwassers, zwischen den Steinritzen etwas Weißes. Ich bückte mich und bohrte mit meinem Kamm im trockenen und harten Boden und fand dabei ein ovales Medaillon, das auf der Unterseite die berühmten Blauen Schwerter und auf der Schauseite eine farbenprächtige Blumenmalerei aufwies. Ringsum war das Medaillon mit einem schmalen Silberrand gefasst. Ich zeigte es in einem Juweliergeschäft der Verkäuferin und sie bestätigte mir, dass es ein Meissener Porzellananhänger sei aus der Zeit um 1900. Ich erzählte ihr allerdings nicht, dass ich das Stück im Dreck gefunden hatte. Zu Weihachten schenkte ich das Fundstück meiner Mutter, die höchst verwundert war, dass ich so etwas im Elbschlamm gefunden hatte. Und sie trug es oft und gern, wenn sie im Theater oder im Konzert war.

Wannenbad für alle

Feuchte Glücksmomente gab es sonnabends, wenn die Eltern und wir zwei Jungs ins Talbad gingen, um dort zu baden. Vater und Mutter nahmen meistens ein Doppelbad, d.h. ein Raum mit zwei Badewannen und wir Jungs teilten uns eine Duschkabine. Die Dusche kostete meines Wissens 50 Pfennige und das Wannenbad 1 Mark. Die Benutzungszeit war vorgeschrieben und man musste sie auch einhalten. In 30 Minuten mussten wir Jungs geduscht sein, bei der Badewannenbenutzung konnte man vielleicht etwas länger bleiben.  Der Wartebereich war sonnabends immer brechend voll, oftmals musste man fast eine Stunde lang warten, bevor man aufgerufen wurde, wobei eine Vorrichtung schrillte und die Bestellnummer anzeigte. Viele Menschen in Meißen besaßen kein Badezimmer in ihrer Wohnung, auch wir hatten kein Badezimmer, obwohl es eine große Wohnung war.

Glückliche Weihnachten gab es immer, auch wenn die Geschenke nicht üppig waren. Obwohl meine Großeltern und Eltern Angehörige der Evangelischen Religion waren, spielte die Religion in unserer Familie keine Rolle. Aber zu Weihnachten wurde die Geburt des Jesuskindes in Erinnerung gebracht, auch mittels entsprechend kleiner Holzfiguren in einem Stall mit einer Krippe, nebst Hirten und den drei Weisen aus dem Morgenland, sowie Schafen und einem Esel. In die Kirche gingen wir jedoch am Heiligen Abend nicht. Wir sangen zwar daheim einige Weihnachtslieder und wir Jungs spielten dazu auf dem Klavier und der Geige. Das Hauptereignis für uns Jungs war das aufwändige Schmücken des Weihnachtsbaumes im großen Korridor, was etwa zwei Stunden dauerte. Waren wir fertig, brachten die Eltern den Weihnachtsbaum in das Wohnzimmer und danach durften wir diesen Raum nicht mehr betreten. Die Eltern werkelten im Wohnzimmer, legten die Geschenke unter den Weihnachtsbaum und ordneten die beliebten, bunten Weihnachtsfressteller, die mit Nüssen, Pfefferkuchen, Bonbons, Keksen, Äpfeln und Apfelsinen gefüllt waren. Erst vor dem Abendessen gab es die „Bescherung“ und alles wurde ausgepackt, beäugt, angezogen, beschnuppert, ausprobiert und gelobt und bedankt. Nach dem Abendessen wurde nochmals alles begutachtet, das gewünschte Buch schon angelesen und die neue Schultasche ausprobiert. Oftmals waren auch die Großeltern zu Besuch, mitunter auch Bekannte und Freunde der Eltern. Ein Tonbandaufnahmegerät war die absolute Sensation für alle, denn jeder konnte nun hören, wie er sprach und lachte und sang.

Glücksmomente mit Tieren:  Bei unseren Großeltern gab es einen schwarzen Kater, der vom Großvater liebevoll betreut wurde. Da er uns gegenüber immer sehr zurückhaltend war, wenn wir ihn streichelten oder neckten, wünschten wir uns eine eigene Katze, obwohl die dann den ganzen Tag allein zuhause war, da wir alle tagsüber unterwegs waren. Irgendwann brachte der Vater eine schneeweiße Katze mit, die er in Dresden bekommen hatte.  Sie war noch relativ jung und wurde unser aller Liebling.  Zwischen unseren Betten im Kinderzimmer hatte sie ihren Schlafplatz, aber sie schlief am liebsten bei uns in den Betten am Fußende.  Wir vereinbarten, dass sie eine Wohnungskatze bleiben sollte und somit nicht nach außen kam. Tagsüber saß sie auf dem Fensterbrett und beäugte den Verkehr auf der Straße. Alle Leute in der näheren Umgebung kannten natürlich unsere Katze. Sie war so geschickt, dass sie alle Türen in der Wohnung selbst öffnen konnte, wenn diese nicht verschlossen waren. Sie sprang hoch an die Türklinke und drückte diese mit ihren Pfoten nach unten, so dass sich die Tür öffnete.  Ein einziges Mal war sie auf einen Gebäudesims unterhalb des Fensters gesprungen und von dort bis zu einem Park gelangt, wo wir sie dann verängstigt unter einem Gebüsch fanden.  Als wir dann später in Karl-Marx-Stadt lebten, nahmen wir sie in einer Reisetasche in der Straßenbahn mit in den Küchwald. Wir hoben sie aus der Tasche heraus und sie lief nur wenige Meter, schüttelte dabei unentwegt ihre zarten Pfoten, die ihr durch die Äste weh taten  und schon sprang sie zurück in die geöffnete Reisetasche und ließ sich durch den Wald tragen, wobei sie mit dem Kopf neugierig aus der Tasche blickte.  Später, als wir erneut umzogen in ein kleines Dorf, musste sie von heute auf morgen in der Scheune auf dem Heuboden nächtigen und kam nur noch ins Haus, wenn sie ihre Jungen zur Welt brachte. Aus der schönen weißen Stadtkatze wurde eine mutige Dorfkatze, die aber immer wusste, dass sie privilegiert war durch ihre Herkunft. Tiere gehörten zu unserem Leben dazu.

Morgendlicher Ferienjob

Während der Sommerferien durfte ich von Karl-Marx-Stadt aus für drei Wochen zu meiner Großmutter nach Meißen mit dem Zug fahren.  Ich erfuhr von einem Onkel, der bei der Deutschen Post arbeitete, dass man Zeitungsausträger suche. Also ging ich zur Postabteilung und fragte, was ich zu tun habe und wie lang meine Arbeitszeiten sind. Man konnte schon um 5 Uhr 30 die in Betracht kommenden Zeitungen und die Abonnentenlisten bei der Post in Empfang nehmen, danach fuhr ich sofort mit meinem Fahrrad in den Stadtteil, wo ich die Zeitungen in den entsprechenden Häusern verteilte. Nicht alle Abonnenten hatten im Hausflur einen Briefkasten, so dass man eben drei Stockwerke hoch rennen musste, um die Zeitung in den Türschlitz einzuwerfen. Ab 6 Uhr 30 begann ich die Verteilung und manche Abonnenten waren darüber sehr erstaunt, denn so zeitig hatten sie noch nie ihre Zeitung erhalten. Viele nahmen sie gleich mit auf den Arbeitsweg, denn so konnten sie im Zug oder im Autobus schon die Zeitung lesen. Manchmal bekam ich sogar ein kleines Trinkgeld. Ich verdiente somit etwas Geld, über das ich selbst verfügen konnte und darüber war ich sehr glücklich.

Mit Filmen in ferne Länder reisen

Filmreife Glücksmomente erlebte ich im 10., 11. und 12. Schuljahr, denn die Abiturzeit verbrachte ich bei meiner Großmutter in Meißen. Die ersten Filme sah ich in Meißen in den frühen 1950er Jahren, es waren meistens sowjetische Märchenfilme, die ich in der „Filmburg“ sah. In Karl Marx-Stadt gab es viel größere und schönere Filmtheater als in Meißen und ich besuchte die Kinos allein oder mit meiner Mutter. Manchmal besuchte ich auch am Bahnhof ein Kino, in dem ununterbrochen Filme gezeigt wurden, tags und nachts. Mit Schulfreunden besuchte ich auch sehr oft Kinos und bezahlte den Eintritt, denn ich hatte ja Geld durch meine Arbeit als Kegelaufsteller.

Wieder in Meißen besuchte ich als Oberschüler bis zum Abitur vor allem die „Flohkiste“ , ein winziges Kino mit schlechtem Ruf, aber sie veranstalteten ab 22 Uhr eine Nachtvorstellung und diese Filme wollte ich unbedingt sehen, es waren Produktionen aus Italien, Frankreich und England und diese Film wurden auch in der Zeitschrift „Filmspiegel“ vorgestellt und bewertet. In der Oberschule nannte man mich bald „Ulrich Eilau“ nach einem bekannten Filmkritiker der DDR, der seine Texte in Zeitungen oder im Rundfunk unterbringen konnte. Ich begann schon im 11. Schuljahr für die Zeitschrift „Filmspiegel“ kurze Filmkritiken zu schreiben, die auch veröffentlicht wurden. Im Kino „Filmbühne“ in Meißen gab es regelmäßig eine Kunstfilmveranstaltung, wobei ein Referent von der Klubhausleiterschule über den Film ca. 20 Minuten einen Vortrag hielt. Auch nicht synchronisierte Filme konnten wir in Meißen sehen, vor allem mit italienischen, englischen und französischen Filmkünstlern, so dass man hörte, wie Simone Signoret oder Anna Magnani sprach. Die Filmwelt war ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, denn in die Herkunftsländer der Filme konnten wir ja erst dann reisen, wenn wir im Rentenalter waren.

„Lieber Karl, jetzt ist aus den Medien zu erfahren, dass wir weder „deutsch“ noch „Deutsche“ waren, dass es keine „ Demokratie“ in der DDR gab und dass das Staatswesen keine „Republik“ gewesen ist. Wieso aber wurde 1973 die DDR Mitglied der UNO und 1972 Mitglied der UNESCO? Und wieso gab es einen regen Handel zwischen der BRD und der DDR, wenn diese ein „Unrechtsstaat“ gewesen war?

Was waren wir eigentlich? Geboren 1944 im Deutschen Reich wurde ich 1949 ungefragt zum Bürger der DDR und 1990 zum Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Das alles geschah ohne meinen eigenen Willen und ohne mein Zutun, aber bin ich denn ein Stück Holz oder eine Ware oder eine Nummer, mit der man machen kann, was man will?

Wie denkst Du darüber, nachdem Du meine Kindheitserinnerungen gelesen hast? Wenn wir in einem Unrechtsstaat gelebt haben seit 1949, dann sollten wir eine Abfindung für die sinnlosen Jahre unseres Daseins erhalten, oder? Dann lebten wir doch in einem Gefängnis und Gefangene erhalten für ihr unrechtmäßiges Gefangensein eine materielle Abfindung, oder irre ich mich? Mit herzlichen Grüßen Dein Opa.“

Autor: Dr. Hans Sonntag

* Das Wort kam in der damaligen Zeit im normalen Sprachgebrauch vor und ist nicht abwertend gemeint.

Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-80421-0001 / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183-80421-0001, LPG Niendorf, Karneval im KindergartenCC BY-SA 3.0 DE

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