Erinnerungen an eine besondere Süßigkeit: Eine Begegnung und Wiederbegegnung mit Halva
Nach der Wende, als bei uns die großen Supermärkte entstanden und mit ihren vielen Waren unsere Lebensweise veränderten, stieß ich zufällig in einigen Filialen auf Packungen mit „Halva“ aus Polen und aus Griechenland. Die Begegnung mit Halva regte blitzartig meine Erinnerungen an: an meinen Großvater, der 1960 im Alter von 80 Jahren gestorben war. Lange hatte ich nicht mehr an ihn gedacht!
Sofort sah ich ihn nun aber vor mir: Mein Großvater hatte seit 1910 seine Sattlerwerkstatt in der Meißner Gerbergasse 16 betrieben, Taschen, Lederbeutel, Rucksäcke, Aktentaschen und Koffer in Handarbeit repariert und bis zuletzt in seinem Beruf gearbeitet. In den frühen 1950er Jahren ging er einmal in der Woche in den barackenartigen Verkaufskiosk in der Baulücke neben dem „Hut-Haus“ in der Elbstraße, um sich dort eine dicke Scheibe Halva zu kaufen. Die Verkäuferin schnitt die Scheibe mit einem großen Messer von einer Masse ab, die an ein Kastenbrot erinnerte. Sie verpackte sie in ein gewachstes Papier, das in kurzer Zeit durch das austretende Sesamöl nahezu durchsichtig wurde. Wenn mein Großvater daheim in der Gerbergasse angekommen war, durfte ich – damals ein acht- oder zehnjähriger Junge – ein Stück von seiner Halva-Portion kosten.
Es war eine Süßigkeit, die ich bisher nicht gekannt hatte und die mir sehr gut schmeckte. Damals wusste ich noch nicht, dass die Masse aus Sesam und anderen Zutaten bestand. Halva schmeckte viel besser als der „Meißener Kunsthonig“ aus dem VEB Elbdom an der Dresdener Straße. Ob Großvater die Rezeptur von Halva kannte? Wir wussten, dass er während des 1. Weltkriegs als Soldat in Frankreich stationiert gewesen war. Vielleicht hatte er dort im Krieg diese Süßigkeit schätzen gelernt?
Als ich einige Jahre später in Karl-Marx-Stadt lebte, fuhr ich immer in den Sommerferien mit dem Zug zu den Großeltern nach Meißen. Dort konnte ich mit meinen einstigen Schulkameraden zusammen sein. In Karl-Marx-Stadt war ich ein „Fremder“. Ein Onkel, der in Meißen bei der Post arbeitete, wusste, dass man dringend Zeitungszusteller suchte: Er vermittelte mir diese Arbeit.
Der Dienst begann morgens sehr zeitig, aber um 8 Uhr hatte ich bereits alle Zeitungen in den Briefkästen verstaut und nun den ganzen restlichen Tag für mich. In dieser Zeit verdiente ich mein erstes eigenes Geld. Ich ging ins Kino, so oft ich wollte, aß in der Eisdiele bei Grafe am Theaterplatz reichliche Eisportionen und kaufte schließlich auch Halva selbst, obwohl es teuer war. Meine Freunde kannten Halva überhaupt nicht, eher noch „Bayerische Malzbonbons“ vom „Elbdom“.
Als Erwachsener hätte ich gern erfahren, wer in der DDR so kurz nach dem Krieg eigentlich für den Einkauf von Halva verantwortlich war. Aber da gab es diese Süßigkeit schon längst nicht mehr zu kaufen: Es war aus dem Süßwarenangebot verschwunden. In den 1970er und 1980er Jahren fanden wir auf Reisen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und in Rumänien nur ähnliche Varianten von Halva.
Die unverhoffte Wiederbegegnung nach der Wende weckte nicht nur die Freude am Geschmack von Halva, sondern auch die Erinnerungen an meinen genussfreudigen, lustigen, singenden und arbeitsamen Großvater. Und heute weiß ich auch, dass Halva ursprünglich aus Indien, Iran, Pakistan und Zentralasien stammt und auch in Vorderasien, Südost-, Mittel-und Osteuropa bekannt und begehrt ist. Man kann es auch durch Zugabe von Vanille, Kakao, Nüssen, Mandeln oder Pistazien verfeinern.