21. November 2024 10:53

Geschäftige Lebensader der Stadt

Unser Autor Dr. Hans Sonntag weckt Erinnerungen an die Meißner Gerbergasse in den 1950er Jahren

Auch persönliche Erinnerungen können ein Teil der Stadtgeschichte sein – so wie meine an meine Kindheit und Jugend in Meißen in den 1950er Jahren. Von 1951 bis 1956 wohnte ich bei meinen Eltern in der Fleischergasse 6. Die Nachmittage verbrachte ich während dieser Jahre aber bei meinen Großeltern, die in der Gerbergasse 16 lebten.

Nach dem Unterrichtsende in der Neumarktschule aß ich bei den Großeltern zu Mittag, erledigte anschließend eventuelle Hausaufgaben und traf mich dann mit meinen Freunden, die alle im Umkreis der Gerbergasse lebten, auf dem Schulplatz an der „Roten Schule“.  Wir spielten oft und gern „Räuber und Gendarm“, wobei einer oder eine ausgewählt wurde, die gesamte „Rote Schule“ zu umlaufen, während wir anderen uns in den dunklen Hauseingängen oder Hinterhöfen versteckten. An einer Ecke der Schule gab es eine Stelle, wo man sich, falls man nicht entdeckt wurde, lauthals „befreien“ konnte. Wer aber im Versteck gefunden wurde, der musste die nächste Umrundung des Gebäudes antreten. Das war stets ein riesiges Vergnügen, denn der Läufer oder die Läuferin versteckte sich geschickt hinter den Wartenden an der Bushaltestelle gegenüber der Messerschleiferei Fischer. Und plötzlich waren sie schon ziemlich schnell nahe an der Stelle, wo wir blitzartig in unsere Verstecke rennen mussten.

Nach 16 Uhr oder auch etwas später durften wir die Fahrräder, die in der „Fahrradwacht“ auf dem Schulplatz gesichert wurden, in die Depoträume der „Roten Schule“ fahren. Dabei lernten wir gleichsam auch nach und nach das Fahrradfahren, denn in der 1. oder 2. Klasse besaß wohl noch keiner von uns ein eigenes Fahrrad. Wir mussten vorsichtig sein und mancher schob das Fahrrad nur, weil er beim Fahren noch keine Balance halten konnte. Wir waren restlos glücklich, wenn wir uns zu den Fahrradfahrern zählen durften.

Im Herbst sammelten wir im Schulhof Kastanien und bastelten daheim daraus kleine Figuren oder wir machten mit Bindfaden und Nadel einen Kastanienkranz für ältere Nachbarsleute oder Bekannte. Von denen waren einige der Ansicht, dass solche Kastanienkränze ein Mittel gegen Rheuma und Gicht seien: Sie legten die Kränze meisten an das Fußteil ihres Bettes. Auch meine Großmutter schwor auf das „Kastanienwunder“.

Da durch die Gerbergasse auch viele Pferdefuhrwerke fuhren, fanden sich hier stets auch „Pferdeäpfel“, die von den Anwohnern rasch aufgesammelt wurden. Pferdemist galt als gutes Düngemittel für Tomaten, Bohnen und Gurken im Hinterhofgarten oder in den Balkonkästen. Großvater rief stets aus dem Fenster meinen Namen und ich sammelte blitzschnell die Kostbarkeiten mit einer Kehrschaufel ein und brachte sie in unseren Hofgarten.

Bei Hochwasser, fast regelmäßig im Frühjahr und Herbst, war oft auch die Gerbergasse überschwemmt. Die Leute liefen dann auf hölzernen Brettern entlang der Häuser. Wir Kinder hatten viel Vergnügen am Hochwasser: Wir ließen unsere kleinen Holzschiffe oder eben auch nur Holzscheite an langen Bindfäden aus den Fenstern ins Wasser hinunter und spielten „Ozeanschlachten“, obwohl sicherlich noch keiner von uns schon das Meer gesehen hatte.

Bei Schnee fanden wir uns meistens mit unseren Schlitten am Brückenkopf der Elbbrücke ein. Hier gab es bis zur Uferstraßen-Kreuzung ein Gefälle. Bei schneller Schlittenfahrt wurde hier laut „Bahne frei, Kartoffelbrei“ gerufen. Irgendwann verunglückte ein kleineres Mädchen an einem Baum tödlich und zu Hause wurde ein Verbot für die Schlittenpartien ausgesprochen. Ab dieser Zeit liefen wir mit den Schlitten zu Fuß nach Siebeneichen und rodelten dort auf der großen Wiese bis hinunter zur Straße.

Am 1. Mai war es angenehm, wenn in der Gerbergasse vom Fenster in der ersten Etage den Mai-Umzug bestaunen konnte. Da gab es viele Kapellen, die laut musizierten, und geschmückte Wagen von Fabriken und Geschäften. Mitmarschierende Bekannte winkten uns zu.  Alle unsere Fenster waren „besetzt“ bis zum Ende des Festumzugs. Wenn man am Straßenrand stand, hatte man dagegen wenig Chancen etwas zu sehen, es sei denn man kletterte auf die Brüstungen mancher Schaufenster, was jedoch auch etwas gefährlich war.

An der Mündung der Triebisch in die Elbe gingen wir Jungs im Sommer manchmal „baden“: Da das Wasser nicht sehr hoch war, lagen wir meistens der Länge nach in der Strömung und ließen uns treiben.  In die Elbe selbst badeten wir nicht, vielleicht weil sie uns zu gefährlich oder zu schmutzig war.

Am Zugang zum Schulplatz gab es vor dem Kinderwagen-Geschäft eine Gehwegfläche aus glatten Steinplatten. Dort konnte man wunderbar „kreiseln“. Aber wehe, man passte nicht auf, denn am Straßenrand gab es einen Schleusendeckel mit offenen Segmenten: Dort hinein konnten Kreisel blitzschnell verschwinden.  Ich nahm stets eine alte Zeitung mit und legte sie auf den Schleusendeckel, sodass ich kein Geld für den Kauf neuer Kreisel ausgeben musste.

Im Jahr 1960, als das 250. Jubiläum der Porzellan-Manufaktur gefeiert wurde, war ich im Juni bei meinen Großeltern in Meißen in den Ferien. Mit meinen Eltern lebte ich seit September 1956 in Karl-Marx-Stadt. Im Festumzug zeigte die Manufaktur ihre schönen Porzellane als Modelle, Mitarbeiter der Manufaktur trugen Kostüme aus der Barock- und Rokokozeit. Dafür gab es viel Applaus von den Zuschauern. Zur Eröffnung der neuen Schauwerkstatt im Schmuckhof der Manufaktur ging ich allein. Daheim berichtete ich anschließend der ganzen Familie, was es dort alles zu sehen gab. Noch konnte ich nicht ahnen, dass ich 16 Jahre später, im Alter von 32 Jahren, eine interessante Tätigkeit in der Manufaktur aufnehmen würde.

Die Gerbergasse beginnt an der Altstadtbrücke. Sie setzt sich fort zum Rossplatz und mündet in die Neugasse. Dieser Straßenzug, im Jahr 1975 dann umbenannt in Straße der Befreiung, war damals beste „Eingangstor“ in die Meißner Altstadt, sicherlich wurde sie in jenen Jahren mehr frequentiert als die Elbstraße. In fast jedem Haus der Gerbergasse befand sich damals ein Geschäft: heute kaum noch vorstellbar!

Auch diese Geschäftskultur der damaligen Zeit ist ein Teil der Stadtgeschichte. Deshalb habe ich aus dem Adressbuch von 1950 herausgesucht, welche Läden es damals in der Gerbergasse gab. Vielleicht verbinden manche Leser noch Erinnerungen damit. Von der Altstadtbrücke kommend gab es auf der linken Straßenseite die Lederwarenhandlung Göschel, Herrenfriseur Lorenz, Schriftmalerei Frenzel, Bäckerei Arras,  Fleischerei Heintzsch, die Vulkanisieranstalt und Reifenhandlung Schniebs, die Fahrrad- und Nähmaschinenhandlung Paul, Fotograf Eckelmann, Lederhandlung Rost (Inh. Hugo Dietrich), Schuhmacherwerkstatt Ulbrich,  Pelzwerkstatt Höhle, die Evangelische Gemeinde der Adventisten, Tapezierer Kahl, Parfümerie und Kosmetiksalon Charlotte Meentzen, Sattlerei Glöckner, die Gaststätte „Bayerischer Hof“, das Milchgeschäft Kobisch, die Kneipe „Zur Bleibe“ und Schneiderin Marianne Jäckel im Hinterhaus, Tonwarenhandlung Ziegenhals, Rundfunkgeschäft Borsdorf, Hutmacher Fraulob, die Schneiderwerkstatt Wagner, Messerschmiedemeister und Schleiferei Fischer, Tabakwarenhandlung Schulze, Buch- und Musikalienhandlung Buchheim, Juwelier und Goldschmiedemeister Tronicke, Optikermeister Wagner, Klempnerei und Installationen Rödel, Fluss- und Seefische der Fischräucherei Breckwold, das Seilereigeschäft Langer, Leder- und Fellhändler Herrmann und Handarbeiten und Wollwaren Zeuner.

Auf der rechten Seite der Gerbergasse gab es laut Adressbuch von 1950 ebenfalls etliche Geschäfte. Hier befanden sich die Sächsische Landeskreditbank, die Praxis von Zahnarzt Hahnemann, Konditorei und Cafè Klöckner, die Tierarztpraxis Dr. Bennewitz, Fachsamenhandlung Meisel, Maßschneiderei Schindler und Schulze (Inhaber Heinz Weber), die Praxis des Nervenarztes Dr. Koch, Klempnerei und Installation Döring und Fischer, die Fleischerei Roppel, Buchhandlung und Schreibwaren Große, Friseur Regenstein, Gemüsehandlung Stohn und Grimmer, die Zahnarztpraxis Georg Koppehel und das Geschäft für Kinderwagen sowie Korb- und Lederwaren John.

Die Gerbergasse war keine Einbahnstraße und Fußgängerüberwege gab es nicht: Es war keinesfalls einfach, die stark frequentierte Straße zu queren. Mein Großvater wurde bei einem Unfall auf der Gerbergasse leicht verletzt. Tagsüber war das Verkehrsaufkommen extrem dicht, aber nachts herrschte Ruhe, sodass man bei offenen Fenstern schlafen konnte. Mit Umbauten wurde die Straße immer höher gelegt, die Straßenränder hatten nun eine Stufe, aber natürlich keinen Handlauf. Großmutter getraute sich nicht, die Stufe zu betreten und konnte somit auch nicht auf die andere Straßenseite gelangen. Aber ich übernahm gern die „Führungsaufgabe“ ohne Murren.

Für uns Kinder war das bröckelnde, graue und nach Aborten riechende Wohnmilieu der Gerbergasse der beste Spielplatz der Stadt. Wir kannten nichts anderes, das uns als Vergleich hätte dienen können. Ich war in der Kinderzeit nur einmal in Dresden gewesen: Die nahe Großstadt sah damals noch trostloser aus als Meißen. Erst als Erwachsene reisten wir mit dem Zug nach Prag und nach Budapest und ahnten und staunten, wie gepflegt und schön auch alte Städte sein können.

Autor: Dr. Hans Sonntag

Titelbild: Hier ausnahmsweise fast menschenleer: die Gerbergasse in Meißen in den 1950er Jahren. Foto: Stadtarchiv Meißen

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